Zwei Frauen zeigen in ihrem Kurs, wie man «Letzte Hilfe» leistet

Beatrix Bächtold | 
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Am Ende des Lebens macht «Erste Hilfe» keinen Sinn. Vielmehr braucht es dann die «Letzte Hilfe». Aber wie geht die? Wie begleitet man jemandem beim Sterben? Bald gibt es für diese Fragen einen Kurs in der Villa Haslach in Wilchingen.

Der Kurs «Letzte Hilfe» steht allen offen. Er kostet die Teilnehmenden nichts, ausser sechs Stunden ihrer Lebenszeit. Zugegeben, dieser Kurs macht aus Laien keine Profis. Sonst wäre er ja auch geradezu das Wundermittel gegen den Fachkräftemangel im Pflegebereich. Aber er gibt Sicherheit im Umgang mit Trauernden und Sterbenden. Stark vereinfacht könnte man sagen, er lehrt das Einmaleins der Sterbebegleitung. In früheren Zeiten, als man noch als Grossfamilie auf dem Land lebte, war das Sterben unter demselben Dach selbstverständlich. Man war vertraut damit und wusste auch, wie man damit umgeht. Doch vieles, was unsere Vorfahren noch wussten, ging mit den Jahren verloren. «Irgendwie müssen wir wieder zurückfinden zu so einer sorgenden Gemeinschaft in unmittelbarer Nähe», sagt Regula Salathé, eine der beiden Kursleiterinnen.

«Zudem macht das Nachdenken über die eigene Endlichkeit und das Sterben dankbar für Beziehungen im Hier und Jetzt.»

Marianne Näf, Pfarramtliche Mitarbeiterin

Ganz in diesem Sinne reanimiert der Kurs «Letzte Hilfe» verschüttetes Basiswissen rund ums Thema Sterben. Und er zeigt ganz konkret Möglichkeiten der Sterbebegleitung auf. «Das» Sterben gibt es nämlich nicht. Oder wie es kürzlich der Schaffhauser Spitalseelsorger Ingo Bäcker in einem Podcast der «Schaffhauser Nachrichten» zum Thema «Das Schweigen um den Tod brechen», formulierte: «Beim Sterben ist jeder ein Pionier.» Darüber hinaus regt der Kurs auch zum Nachdenken über das eigene Sterben an. Wie und wo möchte ich sterben? Wie halte ich diese Wünsche fest, um meine Angehörigen zu entlasten? Von Fall zu Fall kann der Kurs «Letzte Hilfe» auch so etwas wie die «Erste Hilfe» sein, um angesichts der Endlichkeit sein eigenes Leben zu ordnen. In verschiedenen Themenschwerpunkten beleuchtet der Kurs das Sterben von allen Seiten. Was passiert da eigentlich genau? Wann beginnt es? Wo verläuft der schmale Grat zwischen kurativ und palliativ? Welche Möglichkeiten eröffnen sich seit dem Ja des Stimmvolks zur Fortsetzung der Palliative Care im Kanton Schaffhausen? Und wo erhalte ich professionelle Hilfe, falls mir dann doch alles zu viel werden sollte? Marianne Näf und Regula Salathé leiten den Kurs. Doch drehen wir die Zeit fünf Jahre zurück.

So fing es an

In einer Altbauwohnung in Gächlingen liegt eine Frau im Sterben. Das Zimmer dunkel. Es ist heiss. Irgendwo surrt eine Fliege. Der Ehemann und die zwei Kinder im Primarschulalter sind spürbar überfordert mit dieser Situation. Die Frau hat Krebs. Vermutlich wird sie nur noch wenige Tage leben. Wie sollen sich ihre Angehörigen richtig verhalten? Dürfen sie noch lachen, fernsehen, Radio hören oder müssen sie den ganzen Tag mucksmäuschenstill sein? Wie viel Ruhe braucht denn überhaupt ein sterbender Mensch? Sollen sie im Zimmer bleiben? Fenster auf oder Fenster zu? Muss man Essen bis zum Schluss? Und wie sieht es mit dem Trinken aus?

«Wollen wir zusammen beten?»

Die Spitexmitarbeiterin Regula Salathé besucht die Familie jeden Tag. Sie ist ausgebildet in der Pflege und Profi im Umgang mit solchen Situationen. Aber sie ist auch ein feinfühliger Mensch und deshalb bedrückt sie die unausgesprochene Unsicherheit der Angehörigen. Während sie aus pflegerischer Sicht alles Mögliche für die Sterbende tut, denkt sie schon ans Verabschieden. «Mein Gott, wenn ich gehe, lasse ich hier alle zurück in ihrer Ratlosigkeit.» Es ist ihr unwohl. In dem Moment läutet es an der Tür. Es ist Marianne Näf. Die Seelsorgerin kennt die Sterbende schon lange. Bereits bei der Taufe der Kinder war sie dabei. Die Sterbende lächelt, als sie den neuen Gast erkennt. In letzter Zeit sass die Seelsorgerin schon mehrmals hier an diesem Bett, um der Frau beizustehen. «Wollen wir zusammen beten?», fragt sie. Die Frau nickt. «Der Herr ist mein Hirte …», hört Regula Salathé noch beim Gehen und denkt, «jetzt ist jemand da. Alles ist gut.»

Zur Person Regula Salathé

Die 55-jährige Wilchingerin ist diplomierte Pflegefachfrau HF und verfügt unter anderem über eine Zusatzausbildung in Palliative Care. Sie ist seit vielen Jahren verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Die Kantonsrätin EVP verbringt ihre Freizeit in der Natur oder pflegt ihr Hobby: die Musik.

Kurze Zeit später ruft Marianne Näf sie an. Ob sie mit ihr eine Kursleiterinnenausbildung machen möchte? Der Kurs hiesse «Letzte Hilfe». Entwickelt vom Arzt Georg Bollig, Palliativ- und Notfallmediziner, gibt es ihn schon lange in vielen Ländern. So auch in der Schweiz. Regula Salathé sagt Ja. So fing es an.

«Bleib bei mir»

Regula Salathé kommt aus der Pflege und Marianne Näf ist Seelsorgerin. «Das ist eine sinnvolle Kombination. So gesehen, sind wir das perfekte Tandem», sagt Regula Salathé. Was ihnen jetzt noch fehlte, war ein Raum, um den Kurs abzuhalten. Ideal wäre ein ruhiger und doch verkehrsgünstig gelegener Ort, genau wie die Villa Haslach in Wilchingen. Das historische Gebäude gehört Margrit Müller-Gysel, der Schwester von Regula Salathé. «Sie und ihr Mann sagten spontan zu und gaben mir den Schlüssel. Ich weiss, dass sie ein grosses Herz haben. Trotzdem war ich überwältigt von dieser grosszügigen Hilfsbereitschaft», berichtet Regula Salathé.

«Irgendwie müssen wir wieder zurückfinden zu so einer sorgenden Gemeinschaft in unmittelbarer Nähe.»

Regula Salathé, Pflegefachfrau HF

Zur Person Marianne Näf

Die 60-Jährige kommt aus Gächlingen und ist Fachlehrperson in der Schule Neuhausen am Rheinfall. Zudem teilt sie sich mit ihrem Mann, dem Pfarrer Werner Näf, das Pfarramt der Kirchgemeinde Gächlingen. Sie hat vier erwachsene Kinder. Frische Kraft tankt sie bei ihren Hobbys Lesen und Wandern.

Zum ersten Kurs erschienen gut ein Dutzend Teilnehmende aus verschiedenen Richtungen und Beweggründen. Die einen pflegten gerade ihre Eltern, andere hatten schwerkranke Kinder, wieder andere kamen einfach aus Interesse. Alt und Jung. Mann und Frau. Männer waren in der Unterzahl. Es scheinen immer noch die Frauen zu sein, die umsorgen, pflegen und die sozialen Kontakte aufrechterhalten. Das ist kein Klischee, sondern offenbar zählbare Tatsache. Der Kurs findet im Salon dieser Villa statt. In die Wand ist die Jahreszahl 1661 eingeschnitzt. Demzufolge wurde dieser Salon rund 200 Jahre nach der Schlacht von Solferino gebaut. Mit 6000 Toten und 30 000 Verwundeten gilt diese als blutigste Schlacht seit Waterloo. Was Solferino mit dem Kurs «Letzte Hilfe» in Wilchingen zu tun hat? Nun, nach eben dieser grössten Schlacht im Sardischen Krieg, kam ein Schweizer Geschäftsmann zufällig am Schlachtfeld vorbei. Er sah verstümmelte Soldaten mutterseelenallein in einem fremden Land vor sich hinsterben. «Bleib bei mir. Lass mich nicht alleine», flehten sie ihn an, woraufhin er ins nächste Dorf eilte, um Hilfe zu organisieren.

Der Kurs steht allen offen

Bald schon strömten einfache Frauen und Männer ohne medizinisches Wissen aufs Schlachtfeld. Machen konnten sie nicht viel. Aber sie waren da, harrten bei den Sterbenden aus und gaben ihnen damit das Gefühl, nicht alleine zu sein. Der Mann, der sich damals so spontan und nachhaltig engagierte, war Henry Dunant, der später das Rote Kreuz gründete. Dabeisein, aushalten, mittragen, mit einfachen Mitteln Linderung schaffen, das sind auch die Grundgedanken des Kurses «Letzte Hilfe». «Zudem macht das Nachdenken über die eigene Endlichkeit und das Sterben dankbar für Beziehungen im Hier und Jetzt», sagt Marianne Näf.

Am Samstag, 19. August, findet er wieder statt. Von 13.30 bis 19.30 Uhr öffnet die Villa Haslach in Wilchingen ihr Portal für Menschen, die sich mit einigen der wichtigsten Fragen im Leben befassen möchten. Anmelden kann man sich auf www.ref-sh.ch/letzte-hilfe. Der Kurs steht allen offen. Er kostet die Teilnehmenden nichts, ausser sechs Stunden ihrer Lebenszeit.

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Kommentare (1)

Iris Fontana Do 29.06.2023 - 14:55

Was für zwei bessere Lehrerin gibt es! Danke für euer Engagement!

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