Beringen – Dorf mit zwei Seelen

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Es gibt zwei voneinander sehr verschiedene Beringen: ein altes und ein neues. Wie fremd sind sich die beiden Ortsteile? Unüberwindbare Gräben gebe es keine, sagen die Beringer.

von Mark Liebenberg und Dario Muffler

Im Kanton Schaffhausen beispiellos ist der Bauboom, der ab der Jahrtausendwende auf dem Beringerfeld eingesetzt hat: Wo man von der Enge her kommend vor wenigen Jahren noch grüne Wiesen sah, da entstand innert weniger Jahre Wohnraum für zusätzliche 850 Menschen. Aber auch an anderen Stellen in der Gemeinde wurde gebaut – innert eines Jahrzehnts ist die Beringer Bevölkerung um 1000 auf heute rund 4700 Seelen gewachsen. Und: Ein Ende ist nicht in Sicht, gehört die Gemeinde laut Siedlungsplan des Kantons doch zu den Standorten mit ausreichend Baulandreserven, in die das Bevölkerungswachstum in den kommenden 15 Jahren prioritär hingelenkt werden soll.

An der Schaffhauserstrasse, Abzweigung Bahnhofstrasse, kommt beides irgendwie zusammen: das «alte» und das «neue» Beringen. Hier stehen der Coop, die Post, das Altersheim, und die Gemeindeverwaltung ist um die Ecke, am «Dorf Imbiss» vis-à-vis der Bushaltestelle gibt es mittags Wurst und Döner, und der Durchgangsverkehr rauscht vorbei. Das alte Beringen kennt Erwin Auf der Maur sehr gut. Er hatte während über 20 Jahren tagtäglich Kontakt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, die auf die Post kamen: Auf der Maur war Posthalter. Seit insgesamt 45 Jahren lebt er jetzt in Beringen. Inzwischen ist er bereits einige Jahre pensioniert. Eines sei klar: «Beringen hat sich stark verändert», sagt er. «Es wohnen mehr Leute hier, und der Verkehr hat zugenommen.»

Das Dorf: Geschäftig bis beschaulich

Die Bahnhofstrasse ist ein geschäftiger Ort: Menschen hasten vorbei und erledigen ihre Besorgungen, fast wie in der Stadt. Dörflicher, beschaulicher geht es auf dem Brandplatz beim alten Gemeindehaus zu und her. Unweit des Ortsmuseums unter Lindenbäumen betreibt jeweils am Freitagmorgen der Gemüse-Peter aus Wildensbuch einen grossen Marktstand. «Das ist ein richtiger Treffpunkt geworden», sagt Verkäuferin Vreni Rüttimann. In der Tat strömen Beringer von überall her auf den Dorfplatz, um sich mit frischem Gemüse, Blumen und Setzlingen einzudecken. «Es ist halt einfach persönlicher als beim Grossverteiler», sagt Rüttimann. Dem pflichtet Karl Dellenbach gern bei, ein Stammkunde. «Oder sagen wir besser: Ureinwohner», sagt er und lacht. Der Rentner lebt seit 55 Jahren im Ort und sieht die Entwicklung auf dem Beringerfeld skeptisch. «Das sind doch reine Spekulationsobjekte, diese Neubauten. Deshalb stehen ja auch so viele leer!» Für Dellenbach ist fraglich, dass die beiden Gemeindehälften zusammenwachsen werden. «Die Bewohner der neuen Quartiere sind nach Schaffhausen oder sogar Zürich orientiert, die alt Beringer eher in Richtung ländlichen Raum, das Klettgau», sagt er. Und noch einen Unterschied sieht er, der einst selber aus dem Thurgau zugewandert ist. «Früher hat man sich im Dorf eingebracht, in Vereinen, und hat darauf geschaut, dass man dezue ghöört », erinnert er sich. Das sei heute weniger der Fall. «Leider.»

Deshalb braucht es in Beringen heute mehr denn je Orte der Begegnung, wo die Gemeinde zusammenwachsen kann. Der Brandplatz gehört dazu – der Gemüsestand ist zum Treffpunkt für Bewohner der alten wie der neuen Ortsteile geworden. Der Platz soll nun auch erneuert werden, ein regelrechtes Ortszentrum soll hier laut dem Gemeinderat entstehen.

Ein Begegnungsort ist zweifellos die Badi. Einen positiven Effekt durch die Neuzuzüger im Beringerfeld spürt denn auch Beat Schwaller. Er ist seit 27 Jahren Bademeister in Beringen. Er stelle fest, dass viele junge Familien aus dem Neubauquartier zu treuen Gästen geworden seien. «Wenn jemand zum ersten Mal hier ist, dann hat er Fragen», so Schwaller. So komme er mit den Leuten in Kontakt. «So etwas wie eine Gettoisierung gibt es nicht», betont er. Er verneint auch, dass die neuen Wohnblöcke lediglich von in Zürich tätigen Doppelverdienern ohne Kinder besiedelt seien. «Klar gibt es aber Väter, die tagsüber in Zürich arbeiten», so Schwaller.

Vor gut hundert Jahren lebte das Dörfchen Beringen noch von Rebbau und Landwirtschaft. Der Strukturwandel setzte spät ein, aber mit Kraft. «Dass sich Beringen so schnell und so stark von der Land- zur ­Agglogemeinde entwickeln würde, hätte ich auch nicht gedacht», sagt Brigitta Hinterberger, die vor gut zwei Dekaden hierherzog. Sie sieht indes in der steilen Entwicklung vor allem Vorteile, die allen Bewohnern zugutekämen. «Wir haben gute Einkaufsmöglichkeiten, keinen Mangel an Restaurants, sehr gute Verkehrsanbindungen und einen tiefen Steuerfuss, was will man mehr?» Die Kehrseite, die gebe es auch: eine gewisse Fremdheit durch mehr Anonymisierung. «Deshalb muss man schon schauen, dass man als Gemeinde zusammenwächst», sagt sie.

Besuch in «New Beringen»

Der Benzepark, ein grosszügiger Spielplatz mit Rollbrettparcours und Begegnungszone, könnte so ein Begegnungsort werden. Er liegt genau zwischen der Dorf­einfahrt und den Überbauungen auf der Bordseite des Beringerfelds und wird am kommenden 1. August eingeweiht.

Weiter hinten, mitten in den poshen Mehrfamilienhäusern am Südhang von «New Beringen», dauert es eine Weile bis man auf Bewohner stösst. Es wirkt hier ein wenig wie in einer mediterranen Feriensiedlung im Winter, Bauarbeiter arbeiten am neuesten Block – und tatsächlich stehen nicht wenige Wohnungen leer. Ein automatischer Rasensprenger wässert das noch spärliche Gras zwischen den Wohnblöcken mit den riesigen Terrassen. Postmoderne Tristesse? «Aber nein», sagt Rahel Abächerli, die ihre 18  Monate alte Tochter Lia auf dem Arm hält. Sie hat Wurzeln im Klettgau und ist vor zweieinhalb Jahren mit ihrem Mann hierhergezogen. «Die Wohnungen sind echt mega, aber schon auch teuer», sagt sie. Im Quartier kenne man sich nicht sehr gut. «Es gibt relativ häufig Wechsel», sagt Abächerli. Viele seien kinderlose Paare, bei denen beide arbeiteten. «Kinder gibt es nicht so viele hier.» Deshalb will die junge Familie bald auch noch weiter aufs Land ziehen.

SN Dorfgezwitscher: Von zunehmendem Verkehr, Einkaufsmöglichkeiten und vollen Wirtshäusern

Auf dem Nachhauseweg von ihrem ­Einkauf hält Erika Vögeli am Stand der «Schaffhauser Nachrichten». Es scheppert im Hintergrund, weil gerade ein Lastwagen vom Bahnhof her kommend auf die Hauptstrasse einbiegt und in Richtung Schaffhausen fährt. «Seit diese Sprungschanze eingebaut wurde, ist es viel lauter», sagt Vögeli. Mit Sprung­schanze meint sie die hohen Strassenränder, die von den Fahrzeugen an der besagten Kreuzung überquert werden müssen. Der Verkehr beschäftigt die Seniorin auch ganz allgemein. «Es wird immer enger auf dem Trottoir», sagt sie. «Viele Velofahrer oder Personen mit Tret­rollern nehmen zudem keine Rücksicht mehr auf ältere Leute.»

Themen wie diese werden in Beringen oft in den Vereinen angesprochen. Diese kämpfen zum Teil mit Mitgliederschwund, wie man in verschiedenen Gesprächen erfährt. Die «Alte Garde» kann sich derweil nicht über mangelnden Nachwuchs beklagen. Wobei Nachwuchs vielleicht das falsche Wort ist. In diesem Verein kommen pensionierte Beringer Männer zusammen. Einer von ihnen ist Walter Egloff. Er lebt seit den 1960er-­Jahren in Beringen. «Der Verkehr hat ­zugenommen», sagt er. Egloff wird im November 100 Jahre alt, noch immer geht er aber zu Fuss einkaufen im Dorf.

Auch Edi Ramel gehört zur Garde der Ur-Beringer. «In der Gemeinde hat sich alles explosionsartig entwickelt in den letzten dreissig Jahren», sagt der 95-Jährige, der diese Entwicklung seit vielen Jahren aus dem Alterswohnheim Ruhesitz beobachtet. «Doch Beringen war schon immer ein Pendlerort», sagt er. «Früher waren wir gegen 80 Personen, die jeden Morgen nach Schaffhausen gependelt sind», erinnert er sich. Mehr als 40 Jahre hat er bei der IWC gearbeitet.

Zu einem Treffpunkt für «alte» und «neue» Beringer ist der Marktstand vom Gmües-Peter geworden, der jeden Freitag auf dem Brandplatz steht. «Hier geht es recht familiär zu und her», sagt Sonja Ibeh, die am Stand seit sieben Jahren aushilft. Auch einige Bewohner der Neubauquartiere gehören zu den Stammkunden des Gemüsestands.

«Der Boom ist natürlich gut fürs ­Geschäft», sagt Pjeter Kqira, der seit 22 Jahren im Restaurant Bahnhöfli beim DB-Bahnhof wirtet. Kommen am Mittag neben Handwerkern sehr oft Angestellte aus dem Gewerbegebiet, sind es am Abend eher die alt Beringer, die hier zusammensitzen. «Ich fühle mich in Beringen wohl», sagt er. «Sonst wäre ich nicht mehr hier.» (dmu/lbb)

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