Eine junge Schaffhauserin wurde vergewaltigt - Zwei Jahre später erzählt sie ihre Geschichte

Elena Stojkova | 
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Lia wünscht sich, dass Betroffene zumindest versuchen, gegen die Täter vorzugehen. Und dass sich am Schweizer Recht etwas ändert. Symbolbild: Roberta Fele

Vor zwei Jahren werden einer jungen Schaffhauserin K.-o.-Tropfen verabreicht, sie wird mit dem Auto an einen ihr unbekannten Ort gebracht und dort vergewaltigt. Sie geht zur Polizei, aber ihr fehlen die Beweise. Nun erzählt sie ihre Geschichte.

Wut, Hass, Ekel. Das empfindet Lia*, wenn sie an den Halloween-Abend vor zwei Jahren denkt. An den Mann, der sich an diesem Abend an ihr vergangen hat.

Sie sitzt an einem mittelgrossen runden Tisch in einem Raum der Fachstelle für Gewaltbetroffene in Schaffhausen. Das Wasserglas, das sie vor sich stehen hat, hält sie fest umklammert, als sie beginnt, von dem Abend zu erzählen. 

*Name zum Schutz der Betroffenen geändert

 

Hier findest du Hilfe

Fachstelle für Gewaltbetroffene, Neustadt 23 in Schaffhausen, 052 625 25 00 oder fachstelle@fsgb-sh.ch.

Der Abend beginnt ganz gewöhnlich. Lia trifft sich mit ihren zwei besten Freundinnen, sie trinken etwas, plaudern, die Stimmung ist gut. Später machen sie sich auf den Weg zur Halloween-Party im «Orient» in Schaffhausen. Sie tanzen, Lia begegnet ein paar Leuten, die sie kennt. Einen jungen Mann – er ist damals 17 Jahre alt – kennt sie von Instagram, einmal haben sie sich bis dahin getroffen. Doch beim Treffen merkt sie, es passt nicht. «Wir haben uns nicht gut verstanden», sagt sie. An diesem Abend kommt er trotzdem auf sie zu, grüsst sie, fordert sie auf, sich zu ihm und seinen Freunden zu setzen. Man redet kurz, man trinkt etwas. «Ich weiss noch, dass ich meiner Freundin Handzeichen gab: Ich gehe eine Zigarette rauchen, in fünf Minuten bin ich zurück. Hier fangen meine Gedächtnislücken an.» Es ist das letzte Mal an diesem Abend, dass die Freundin Lia zu Gesicht bekommt.

Sie schreit, doch niemand hört sie

Lia klopft mit den Nägeln leise an ihr Wasserglas. «Es kommt mir ein Bild vor Augen: Wie ich in einem fremden Auto sitze, den Kopf aus dem Fenster strecke, weil mir so schwindlig ist. Dann sagt eine Stimme: ‹Wehe, sie kotzt ins Auto›.»

Dann wird alles dunkel, Lia verliert das Bewusstsein.

Der nächste Moment, der ihr klar vor Augen ist: Sie steht vor einer Haustüre. Sie weiss nicht, wo sie ist, hier war sie noch nie, sie ist noch nicht richtig bei sich. Es ist fünf Uhr morgens. Sie hat keine Jacke, die ist noch im «Orient». Ihr Akku ist leer. Wieder diese Stimme: «Zum Bahnhof geht es da lang.» Ihre Füsse setzen sich in Bewegung, sie geht, sicher eine Stunde lang. Sie schreit. Niemand hört sie. Dann steigt sie in den Zug.

«Ich konnte nicht gleich zur Polizei gehen, ich war unter Schock. Ich konnte nicht richtig sprechen.»

Als sie zu Hause ankommt, ist es halb sieben Uhr morgens. Ihre Mutter wartet schon, sie ist voller Sorge. «Normalerweise schreibe ich ihr, dass alles in Ordnung ist, und wann ich nach Hause komme.» Sie kann jetzt nicht mit ihrer Mutter sprechen, geht direkt ins Bett, fällt völlig erschöpft in einen unruhigen Schlaf. Einige Stunden später geht sie unter die Dusche.

Ihr Körper ist übersät mit blauen Flecken. Auch im Intimbereich.

Alles, was sie weiss, erzählt sie ihrer Mutter. Die beiden gehen zur Apotheke, holen die Pille danach. «Ich konnte nicht zur Polizei gehen, ich war unter Schock. Ich konnte nicht richtig sprechen.» Sie hat den Kontakt des damals 17-Jährigen, schreibt ihn einige Tage später an und fragt ihn, was passiert ist. Denn sie selbst kann es nicht rekonstruieren. «Er wiederholte immer wieder, dass er nichts getan hat, was ich nicht wollte.»

Vorwürfe vom Polizisten

Lia versucht, die Vergewaltigung zu verdrängen. Alles fällt schwer, sie ist wie in Trance. Sie weiss, dass ihr etwas genommen wurde. Eineinhalb Wochen nach der Straftat schafft sie es doch, in ihrer Wohngemeinde zur Polizei zu gehen. Ernst genommen fühlt sie sich dort nicht. Sie wird gefragt, warum sie die Kleider, die sie zur Zeit der Tat trug, nicht behalten habe. Warum sie nicht sofort zur Polizei gegangen sei. «Das war sehr schlimm für mich. Man versucht, klarzukommen, versucht, das Richtige zu tun, und dann dieser Rückschlag.» Der Polizist sagt ihr, sie müsse die Polizei der Gemeinde aufsuchen, in der die Tat passiert sei, also muss sie ihre ganze Energie zusammennehmen und die Aussage nochmals machen. Dabei würde sie am liebsten einfach vergessen. 

«Auch für eine Mutter ist es etwas vom Schlimmsten, wenn ihr Kind so etwas durchleben muss.»

Der zweite Polizist ist ganz anders als der erste. «Klar kamen Fragen, die sehr persönlich sind und mir auch wehgetan haben, aber ich fühlte mich ernst genommen.»

Sie erhält die Telefonnummer der Opferberatungsstelle, wo sie sich gleich meldet, Unterstützung und einen Anwalt vermittelt bekommt. Auch damals sitzt sie an dem Tisch, an dem sie heute sitzt.

Den Fall behandelt die Jugendanwaltschaft, da der Täter nicht volljährig ist. Eineinhalb Jahre dauert das Verfahren. Er bestreitet die Vergewaltigung, ist aber nicht glaubwürdig, widerspricht sich in seinen Aussagen häufig. «Nur er weiss, was passiert ist, denn ich war nicht bei Bewusstsein. Deshalb konnte er sagen, was er will.»

Anfangs bombardiert er sie mit Nachrichten. Er beleidigt sie, sagt ihr, sie solle keine Lügengeschichten herumerzählen. Ist wütend, dass er 50 Meter Abstand von ihr halten muss. «Das brachte mich an meine Grenzen.» Einmal begegnet sie ihm, und ihr wird schwarz vor Augen, alles kommt hoch. Seinem Freund, der ebenfalls im Auto sass, begegnet sie mehrmals.

Ein Freispruch wäre schlimm

Das Schlimmste für sie ist damals, seine Aussage zu lesen. Einmal ist sie per Video dabei und hört zu, als er sich widerspricht. Als er lügt. «Ich weiss, wie ich bin. Er stellte mich ganz anders dar.»

Das Verfahren wird eingestellt, obwohl man Lia bei der Jugendanwaltschaft glaubt. Denn es gibt keine Beweise. Wäre der Fall vors Gericht gegangen, wäre deshalb wohl ein Freispruch resultiert. «Ein Freispruch wäre für mich schlimmer gewesen als ein eingestelltes Verfahren, bei dem er zwar nicht bestraft wird, ihm aber keiner glaubt», sagt Lia. 

«Ich weiss, dass das nicht nur mir passiert ist. Wir müssen fürsorglich sein, aufeinander aufpassen.»

Trotzdem ist sie froh, den Weg gegangen zu sein. Manchmal plagen sie «Wenn …, dann»-Gedanken. Wenn sie doch nur schon im Club bewusstlos geworden wäre, dann hätte man ihr helfen können. Wenn sie Akku gehabt hätte, dann hätte sie ihre Mutter anrufen können, vielleicht im Auto. Oder zumindest um fünf Uhr morgens. Wenn sie gleich morgens ins Spital gefahren wäre, hätte man die K.-o.-Tropfen vielleicht noch in ihrem Körper nachweisen können. Das ist zwar unwahrscheinlich, weil diese Tropfen zum Teil schon nach wenigen Stunden nicht mehr im Blut oder Urin zu finden sind. Dieses Vielleicht hat sich trotzdem in Lias Gedanken festgesetzt.

«Ich bin mir fast sicher, dass die ganze Tat so geplant war. Sie haben mir Drogen verabreicht, wussten, dass sie mich schnell ins Auto bringen mussten.» Die Beweise fehlen ihr auch hier. «Ich kenne meine Grenze beim Alkoholtrinken. Ich habe diese auch schon überschritten und weiss, wie es mir dann geht. Sicher nicht so, dass ich einige Stunden absolut gar nichts mehr weiss.»

Angst, dass einem niemand glaubt

Die Machtlosigkeit ertragen zu müssen, etwas, das passiert ist, nicht beweisen zu können, das sei schwer gewesen. Lia zieht sich anfangs zurück, ist depressiv.

Heute geht es der 21-Jährigen besser, wie sie sagt. «Einfach ist es nicht, auch heute nicht.» Sie hat eine Therapie hinter sich, musste sich selbst wieder finden und sich spüren lernen, wie sie sagt. Ihre Familie, ihre Freundinnen, die Opferberatungsstelle seien immer für sie da gewesen. Vor allem ihrer Mutter ist sie unendlich dankbar. «Auch für eine Mutter ist es etwas vom Schlimmsten, wenn ihr Kind so etwas durchleben muss.»

Diese Tat werde immer ein Teil von ihr sein, sagt Lia. «Das ist manchmal schwierig zu akzeptieren.» Aber sie sei stolz auf sich selbst, dass sie zur Polizei gegangen ist, dass sie sich Hilfe geholt hat. «Ich wüsste nicht, wie es mir heute gehen würde, wenn ich nicht für mein Recht gekämpft hätte. Irgendwann holt dich die Tat ein.» Man müsse sie auf irgendeine Art verarbeiten. Auch wenn es viel Kraft kostet.

Das Problem sei, dass viele Leute sich nicht trauen, über Vergewaltigungen zu sprechen, sagt Lia. «Da ist immer die Angst: Glaubt man mir oder glaubt man mir nicht?» Sie wünscht sich, dass Betroffene zumindest versuchen, gegen die Täter vorzugehen. Und dass sich am Schweizer Recht etwas ändert. «Es ist immer dasselbe: mangelnde Beweise. Und diese Vorwürfe, dass man nicht sofort etwas sagt. Ich finde, es ist nie zu spät, darüber zu sprechen.» Nicht alle Betroffenen wollen, können darüber sprechen, und das sei okay. Aber sie müssten von der Gesellschaft zu spüren bekommen, dass sie darüber reden dürften, wenn sie denn wollten.

«Wir müssen aufeinander aufpassen»

Heute weiss Lia, wie sie sich am besten ablenkt, wenn die Gedanken sie einzuholen drohen. Sie geht spazieren, liest oder malt. Und sie geht auch wieder aus. Den «Orient»-Club meidet sie. Von einigen Menschen hat sie sich getrennt, zum Beispiel von der einen Kollegin, die an dem Abend mit ihr unterwegs war – und ihr später nicht so richtig glauben wollte. «Das hat mir noch mehr Vertrauen genommen.»

Viele würden denken, dass solche Straftaten im kleinen Schaffhausen nicht passieren. «Ich weiss, dass es nicht nur mir passiert ist», sagt Lia. Sie selbst fragt nun immer nach, wenn ihr auch nur das Geringste komisch vorkommt. Wenn sie das Gefühl hat, jemand fühle sich unwohl. «Wir müssen fürsorglich sein. Aufeinander aufpassen.»

Wut, Hass, Ekel. Das empfindet Lia, wenn sie an den Abend vor zwei Jahren denkt. Und Mitleid. Mitleid, dass er ihr so etwas antun musste, um zu bekommen, was er will. Manchmal spürt sie heute noch die Aggressionen in ihren Händen und muss sie an einem Boxsack loswerden. In ganz dunklen Räumen kann sie nicht mehr sein, dann spielt sich in ihrem Kopf ein grässlicher Film ab. Sie hat immer noch Albträume, wie sie jemand festhält und sie sich nicht wehren kann.

Lia würde sich wünschen, dass es normal würde, über solche Erlebnisse zu sprechen. Dann würde sie sich mit den Menschen, die Ähnliches erlebt haben, an einen Tisch setzen und reden wollen. «Wir sind nicht allein. Wir haben keine Schuld und wir müssen uns nicht dafür schämen, dass uns das angetan wurde.»

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