«Ich hätte ihm niemals ein Haar gekrümmt»

Dario Muffler | 
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In der Nacht vom 13. Dezember 2015 ereignete sich in Hemmental eine der schlimmsten Bluttaten der vergangenen Jahre in Schaffhausen. Archivbild: Zeno Geisseler

Der Mordfall von Hemmental, der sich im Dezember 2015 ereignet hatte, wurde gestern vor dem Schaffhauser Obergericht verhandelt.

Überall Blut, so weit das Auge reicht: Dieses Bild bot sich den Polizisten, die am 13. Dezember spätabends nach Hemmental ausgerückt waren. Kurz bevor sie eintrafen hatten sich in einer Wohnung im Schaffhauser Ortsteil grausige Szenen abgespielt, die zwei Todesopfer forderten. Ein 56-jähriger Mann und sein 26-jähriger Schwiegersohn erlagen innert kürzester Zeit ihren schweren Stich- und Schnittverletzungen, die sie sich in einem erbitterten Kampf mit Steak- und Fleischmessern zugezogen hatten. An dieser schaurigen Geschichte soll auch die Tochter des 56-Jährigen und Ehefrau des jüngeren Mannes beteiligt gewesen sein: die tödlichen Messerhiebe habe sie ihrem Vater verpasst.

«Die Tat kann nur als ein ­Abschlachten ­bezeichnet werden.»

Peter Sticher, Erster Staatsanwalt

Gegen die junge Frau hatte die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen etwa ein Jahr nach der Tat Anklage wegen Mordes erhoben. Vor rund einem Jahr hatte sie dann vor dem Schaffhauser Kantonsgericht gestanden. Dieses verurteilte sie damals zu einer Freiheitsstrafe von 16,5 Jahren. Damit war das Kantonsgericht weiter gegangen, als es der Erste Staatsanwalt Peter Sticher gefordert hatte. Bereits im Anschluss an die damalige Urteilseröffnung hatte Christoph Storrer, der amtliche Verteidiger der Beschuldigten, angekündigt, in Berufung zu gehen. Gestern nun begann der Prozess vor dem Schaffhauser Obergericht. Storrer hatte im Sinne des Grundsatzes «in dubio pro reo», sprich im Zweifel für den Angeklagten, von Beginn weg auf einen Freispruch seiner Mandantin plädiert.

Beweisanträge abgelehnt

Entsprechend betonte Storrer gestern zu Beginn, welche Tragweite dieses Verfahren für seine 28-jährige Mandantin habe. «Es geht um sehr viel, weshalb ich darauf beharren muss, dass sämtliche Beweise rechtsgenüglich behandelt werden», sagte er. In der Folge stellte er fünf Verfahrensanträge, wobei er unter anderem die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens betreffend einer ADHS-Erkrankung seiner Mandantin forderte. Dabei kritisierte er das psychiatrische Gutachten, das die Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben hatte. «Es wurde in fataler Weise falsch erhoben», so der Verteidiger. In seiner Replik auf Storrers Anträge hielt Staatsanwalt Sticher fest: «Dass bis zum jetzigen Zeitpunkt mit diesen Anträgen gewartet wurde, ist reine Verfahrenstaktik.» Das Obergericht wies die Anträge ab.

Intaktes Familienleben beschrieben

Im darauffolgenden Teil versuchte sich das Gremium mit Annette Dolge (Vorsitz), Sonja Hammer-Bachmann und Kilian Meyer ein Bild davon zu machen, was in der Tatnacht geschehen war. Denn selbst nach den umfangreichen Ermittlungen und der vorangegangenen Verhandlung vor Kantonsgericht lagen Teile des Familiendramas noch immer im Dunkeln. Verteidiger Storrer betonte darum mehrmals, dass das Kantonsgericht seinen Schuldspruch allein auf Indizien stütze. Und dabei spielen auch die Aussagen der Beschuldigten eine wichtige Rolle. In den Augen der Staatsanwaltschaft und des Kantonsgerichts waren diese widersprüchlich und unglaubwürdig.

Die Beschuldigte beantwortete gestern zwar verschiedene Fragen unter Tränen, äusserte sich grundsätzlich aber zu allem relativ kontrolliert und ausführlich. So etwa zur Beziehung, die sie zu ihrem Vater hatte. «Aufgrund meiner Krankheiten in der Kindheit entstand zwischen meinen Eltern und mir eine extrem innige Beziehung», sagte sie. Dabei sprach sie wiederholt davon, dass die Familie in einer Symbiose gelebt habe. Diese Beziehung werde niemals etwas durchbrechen können, betonte sie gestern vor dem Gericht. Dass die Staatsanwaltschaft ihr vorgeworfen habe, sie habe ihren Vater in der Tatnacht mit bis zu 49 Messerstichen im Nacken- und Schulterbereich grausam getötet, sei das Schlimmste für sie als Tochter. «Wie er mir nie etwas angetan hätte, hätte auch ich ihm niemals ein Haar gekrümmt», so die Beschuldigte.

Mutter mit Gesinnungswandel

Erstmals vor Gericht befragt wurde gestern auch die Mutter der Beschuldigten. Unmittelbar nach der Tat wurde auch sie als Verdächtige inhaftiert, bald darauf aber wieder freigelassen. In den darauf folgenden Befragungen im Vorfeld des Verfahrens gegen ihre Tochter war sie als Privatklägerin aufgetreten und hatte ihre Tochter belastet. Gestern nun nahm sie die Beschuldigte in Schutz. Als Grund dafür nannte sie das Erwachen aus dem Koma, in das sie aufgrund einer chronischen Krankheit gefallen war – just während sie mit ihrer inhaftierten Tochter telefonierte. «Als ich aufwachte, war ich plötzlich wieder ich und erkannte meine Tochter wieder», sagte sie. Unmittelbar nach der Tat sei für sie eine Welt zusammengebrochen. «Ich musste fast glauben, dass meine Tochter die Täterin war, woran ich beinahe zugrunde gegangen bin.»

«Das angefochtene Urteil ist ein fatales Fehlurteil.»

Christoph Storrer, Amtlicher Verteidiger

Derweil sie gestern von ihrer Tochter als Vorzeigemädchen sprach, nahm sie den Ehemann der Beschuldigten ins Visier. «Er kam mir immer etwas komisch vor», sagte sie. «Er war schmierig freundlich.» Sie schilderte auf Nachfrage der Vorsitzenden auch einen Vorfall, der sich im Oktober 2015 ereignet hatte. Damals war es bereits zu einem Polizeieinsatz in der Wohnung der Familie gekommen. Die Mutter und der Vater wurden bei der Auseinandersetzung verletzt, der Ehemann der Beschuldigten von der Polizei für kurze Zeit in Gewahrsam genommen. Auf die Frage, weshalb die Tochter denn am Abend des Geschehens nach Hemmental gekommen sei, antwortete die Mutter: «Sie wollte, dass ich es richte, wie ich das immer getan habe für sie.» Mit «es» meinte sie den Streit im Oktober, nach dem man sich noch nicht versöhnt hatte. Zu dieser Versöhnung sollte es aber nie kommen.

«Es war ein Abschlachten»

Der Grund dafür war, dass der Ehemann und der Vater, bald nachdem die ­Beschuldigte ihre Eltern begrüsst hatte, aufeinander losgingen. Die Staatsanwaltschaft zeichnet in ihrer Anklageschrift den Tathergang so, dass die Beschuldigte die Mutter einerseits am Eingreifen gehindert und zudem ihrem Mann geholfen habe, ihren Vater niederzustechen. «Die Tat kann nur als Abschlachten bezeichnet werden», sagte Sticher gestern. Es handle sich auch zweifelsfrei um Mord, da die Ausführung besonders skrupellos gewesen sei. «Das Vorgehen zeugt von grenzenloser Rücksichtslosigkeit», betonte Sticher. «Sie entschied sich dagegen, ihrem verletzten Vater zu helfen, und dazu, ihn zu töten. Zudem hat sie die Mutter vor dem Einschreiten gehindert.» Sticher forderte, dass sämtliche Berufungsanträge von Rechtsanwalt Storrer abgewiesen werden.

Storrer hingegen war der festen Überzeugung, dass seine Mandantin unschuldig ist. «Das angefochtene Urteil ist ein fatales Fehlurteil», sagte er mehrmals während der Verhandlung. Er brachte mehrere Argumente vor, weshalb seine Mandantin nicht als Mörderin infrage komme. So seien ihrem Vater die tödlichen Stichverletzungen zugefügt worden, als sie noch gar nicht bei den beiden Männern gewesen sei. «Aufgrund der kleineren Körpergrösse als der Vater hätte sich dieser auch wehren können und die Blutspritzer wären im Gesicht und nicht am Pullover gelandet», so Storrer. «Beeindruckend ist auch, dass sich meine Mandantin nicht in den vorzeitigen Strafvollzug begeben will, da sie überzeugt davon ist, unschuldig zu sein.»

Das Gericht fällt heute sein Urteil.

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