«Alles beginnt mit der Erziehung», sagt Kriminologin Nora Markwalder

Tobias Bolli | 
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Schon als Jugendliche versuchte Nora Markwalder die Ursachen von Gewalt zu ergründen. Bild: zVg

Im Kanton haben die Gewaltstraftaten zuletzt wieder deutlich zugenommen. Kriminologin Nora Markwalder erläutert mögliche Ursachen und nimmt im Hinblick auf die Vorbeugung von Straftaten vor allem die Eltern in die Pflicht.

Homo homini lupus est – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Ein alter Spruch, der kaum etwas von seiner Gültigkeit verloren hat. Was aber steht hinter Gewalt und anderen Straftaten und wie können wir sie zügeln? Kriminologin Nora Markwalder beleuchtet das Thema von einer wissenschaftlichen Warte aus und spricht über die kürzlich veröffentlichte Kriminalstatistik des Kantons Schaffhausen.

Frau Markwalder, was fasziniert Sie an der Kriminologie?

Nora Markwalder: In erster Linie fesselt mich die Frage nach dem «Warum». Warum wird jemand straffällig – was sind die Beweggründe, Ursachen und Umstände einer Tat? Daran knüpft sich die Fragestellung, wie sich eine Straftat verhindern lässt. Schon als Jugendliche habe ich Bücher über solche Themen verschlungen.

Kürzlich wurde die Kriminalstatistik für den Kanton Schaffhausen veröffentlicht. Wie hilfreich sind diese Daten für Ihre Arbeit?

Markwalder: Kriminalstatistiken werden seit Mitte des 19. Jahrhunderts erstellt und können Hinweise auf die Entwicklung der Kriminalität geben, gerade wenn sie über eine längere Zeit immer gleich erhoben wurden. Sie haben aber auch Limitationen. Aufgeführt sind nur die gemeldeten Straftaten, das heisst, es ist nur die Spitze des Eisbergs repräsentiert; alles, was der Polizei verborgen bleibt, darunter auch opferlose Delikte, schlägt sich nicht in den Zahlen nieder. Zudem entsprechen gemeldete Straftaten nicht automatisch auch Verurteilungen.

 

Zur Person

 

Nora Markwalder hat in Lausanne Rechtswissenschaften und Kriminologie studiert. Im Jahr 2012 hat die 41-Jährige ihr Doktorat abgeschlossen und zwei Jahre darauf das Zürcher Anwaltspatent erhalten. Seit 2015 ist die Nachfolgerin von Martin Killias Assistenzprofessorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität St. Gallen. In ihrer Freizeit geht sie gerne ins Toggenburg und übt sich dort im Fischen.

Was sticht ins Auge, wenn Sie aus einer Vogelperspektive auf die aktuelle Statistik blicken?

Markwalder: Die Delikte haben insgesamt wieder zugenommen, vor allem minderschwere Gewaltdelikte und Vermögensdelikte – eine Tendenz, die sich auch gesamtschweizerisch beobachten lässt. Natürlich ist dafür auch ein Post-Corona-Effekt verantwortlich. Nach Aufhebung der Massnahmen bewegen sich die Leute wieder in der Öffentlichkeit, auch Kriminaltouristen sind wieder vermehrt aktiv.

Laut Statistik ist dafür bei den schweren Gewaltdelikten ein Rückgang zu verzeichnen.

Markwalder: Das stimmt, allerdings darf man nicht vergessen, dass die absoluten Zahlen tief sind. Entsprechend stark fallen Schwankungen ausgedrückt in Prozentzahlen aus – auch wenn sich die Fallzahlen absolut betrachtet kaum verändert haben. Bei den schweren Gewaltdelikten entspricht die Reduktion von 14 Prozent einem Rückgang von 28 auf 24 Fällen. Dieser könnte auch einfach dem Zufall zu verdanken sein. Schon aussagekräftiger ist dagegen die Entwicklung im Bereich der minderschweren Gewalttaten, weil hier die Anzahl der gemeldeten Fälle deutlich höher ist.

Ebenfalls weist die Kriminalstatistik einen deutlichen Anstieg im Bereich der häuslichen Gewalt auf. Ist das nun ein Anzeichen dafür, dass die Gewalt in den eigenen vier Wänden gestiegen ist oder werden solche Taten einfach öfter gemeldet?

Markwalder: Normalerweise bleiben die Anzeigeraten bei den Straftaten konstant. Im Bereich der häuslichen Gewalt ist es aber tatsächlich so, dass wir in den letzten Jahren sensibler geworden sind; auch hat man bewusst einen polizeilichen und politischen Fokus auf diese Problematik gelegt. Das könnte dazu geführt haben, dass Taten vermehrt zur Anzeige gebracht worden sind. Höhere Zahlen in diesem Bereich sind also nicht zwingend ein Indiz dafür, dass die Gewalt zu Hause tatsächlich gestiegen ist.

Eine Verlagerung der Gewalt weg vom öffentlichen und hin zum privaten Raum sehen Sie also nicht?

Markwalder: Diesen Schluss würde ich nicht automatisch ziehen.

«Es lässt sich eine klare Verschiebung verschiedener Straftaten vom analogen in den digitalen Raum beobachten.»

Was sich aber klar beobachten lässt, ist eine Verschiebung verschiedener Straftaten vom analogen in den digitalen Raum. Ehemals klassische Offline-Delikte finden heute nur noch online statt. Es ist einfach, im Internet etwa über eine gefälschte Homepage flächendeckend Personen anzusprechen. Der potenzielle Ertrag ist viel grösser als zum Beispiel bei einem Banküberfall, und das Risiko ist annähernd null, zumal wenn die Delikte aus dem Ausland begangen werden. Hier tut sich ein riesiges neues Gebiet auf und es wird nötig sein, der Polizei dafür zusätzliche Ressourcen zu Verfügung zu stellen.

Die Jugendkriminalität ist in Schaffhausen letztes Jahr auf einen erfreulichen Tiefststand gesunken – und das entgegen dem gesamtschweizerischen Trend. Wie viel Gewicht geben Sie den Zahlen in diesem Bereich?

Markwalder: Das ist erfreulich, zumal Straftäter oft schon als Minderjährige auffällig werden. Es gibt dann sozusagen einen harten Kern von etwa fünf Prozent, der auch im Erwachsenenalter weiterhin kriminell ist. Auch hier muss man aber im Auge behalten, dass in der Kriminalstatistik nur 117 Jugendliche erfasst wurden. Deshalb ist es schwierig, bereits von einem Trend zu sprechen.

Grundsatzfrage: Warum werden Menschen eigentlich gewalttätig?

Markwalder: Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Die oben erwähnte Jugenddelinquenz ist besonders wichtig. Alles beginnt mit der elterlichen Erziehung: Wird den Kindern beigebracht, ein Bedürfnis aufzuschieben, die eigene Ungeduld und Impulsivität zu zügeln? Mangelnde Selbstkontrolle ist für uns ein besonders wichtiger Indikator, er korreliert wohl am stärksten mit begangenen Delikten. Es ist sehr wichtig, dass die Eltern ihren Kindern Disziplin und Ausdauer beibringen, sie darauf ausrichten, längerfristig einen Vorteil zu erzielen. Eine Straftat widerspiegelt oft das exakte Gegenteil dieser Haltung: Man stiehlt ein Velo, weil man erwartet, damit sofort etwas für sich herauszuschlagen.

Ein wichtiger Indikator dürfte ebenfalls das Geschlecht sein, über 80 Prozent der Straftaten im Kanton wurden letztes Jahr von Menschen männlichen Geschlechts begangen. Einfach gefragt: Ist Testosteron ein Gewalthormon?

Markwalder: Junge Männer sind in der Geschichte schon immer überproportional aufgefallen – unabhängig vom Strafrechtssystem und unabhängig von der Kultur, in der sie eingebettet waren. Es gibt Forschungsliteratur, die nach einem Zusammenhang von Testosteron und Gewalt gesucht hat. Sie konnte aber keine eindeutigen Resultate zutage fördern. Ein Erklärungsansatz könnte ebenfalls die Aggression und Durchsetzungsfähigkeit sein, die bei Männern ausgeprägter ist. Es lohnt sich, jeweils hinter solche Variablen zu schauen, gerade auch im Bereich der Ausländerkriminalität ...

… die in Schaffhausen im letzten Jahr gestiegen ist. Rund 60 Prozent der Handlungen gegen das Strafgesetzbuch und das Betäubungsmittelgesetz wurden von ausländischen Menschen begangen.

Markwalder: Tatsächlich sind ausländische Jugendliche in den Kriminalstatistiken übervertreten. Wenn man aber andere Faktoren in den Blick nimmt, zeigt sich, dass die Staatszugehörigkeit nicht die aussagekräftigste Variable ist. Einen grösseren Erklärungswert haben sozio-ökonomische Faktoren – zum Beispiel prekäre Lebensumstände oder problematische Quartiere, in denen die Jugendlichen aufwachsen.

Sie stellen sich also gegen die These, dass wir gleichsam eine Gewaltkultur importiert haben?

Markwalder: Dazu gibt es interessante Studien. Eine Umfrage in Bosnien-Herzegowina und in weiteren Balkan-Ländern hat ergeben, dass Jugendliche dort weniger Gewaltdelikte begehen – sogar weniger oft straffällig werden als Schweizer Jugendliche. Das deutet darauf hin, dass nicht die Kultur entscheidend ist, sondern zum Beispiel der Stress, der durch die Migration in ein anderes Land erzeugt wird. Ich bin also nicht überzeugt davon, dass ein Import von Gewalt tatsächlich stattgefunden hat.

Kommen wir zuletzt noch auf das subjektive Sicherheitsempfinden zu sprechen. Wie stark können wir uns darauf verlassen?

Markwalder: Es ist nicht immer gleichbedeutend mit einer tatsächlich vorhandenen Gefahr. Frauen fürchten sich zum Beispiel mehr als Männer, obwohl sie seltener Opfer von Gewalt werden.

«Eine ordentliche Umgebung führt auch zu einem erhöhten persönlichen Sicherheitsgefühl.»

Neben herumlungernden Leuten können auch Zerfallserscheinungen wie Abfall, Graffiti oder zerbrochene Scheiben einen negativen Einfluss haben. Eine ordentliche Umgebung führt hingegen zu einem erhöhten persönlichen Sicherheitsgefühl. Amerikanische Studien haben gezeigt, dass die Umgebung auch Auswirkungen auf die tatsächliche Kriminalitätsrate haben kann. So hat eine verbesserte Strassenbeleuchtung zum Beispiel zu einer Reduktion von begangenen Straftaten geführt.

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