Ein Einhorn und viel Empathie für afghanische Familie

Damiana Mariani | 
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Im Dezember erzählte der aus Afghanistan geflüchtete Muslim Razeq Ebrahimi an dieser Stelle von seinem Wunsch, Weihnachten zu feiern. Seine Geschichte machte viele betroffen. Einige Leserinnen besuchten ihn und seine Familie daraufhin sogar zuhause.

Als Razeq Ebrahimi sieben Jahre alt ist, schickt ihn seine Mutter als Boten zu seiner Tante. Er soll ihr einen Umhang bringen. Doch der kleine Razeq hat zwei Tanten und läuft in die falsche Richtung, zehn Kilometer weit. Das hat ihm das Leben gerettet. In der Nähe des Hauses seiner anderen Tante schlägt zur selben Zeit eine Rakete ein. Vier seiner Freunde ver­lieren dabei ihr Leben. Als der 7-Jährige nach langem Fussmarsch zurückkommt, erblickt er die Trümmer. «Das war furchtbar. Ich habe nächtelang geweint», sagt Ebrahimi heute, er steht am Rheinufer. Der Himmel ist tiefblau, das Wasser ruhig, die Oberfläche spiegelglatt, als könnte man sie mit einem Messer zerschneiden.

Zerschnitten, so fühlt sich Ebrahimi viele Jahre schon. Er hat den Reissverschluss seiner Daunenjacke hochgezogen und die Hände wärmesuchend in die Taschen gesteckt. «Für mich ist jeder Tag schwer», sagt er in gebrochenem Schaffhauser Dialekt.

400 Franken und ein Panettone

Nach einem Spaziergang entlang des Gewässers erreichen wir Ebrahimis Zuhause. Hier haben wir den 38-Jährigen und seine Familie am 16. Dezember vergangenen Jahres besucht, um mit ihm über Weihnachten zu sprechen. Denn Ebrahimi, obschon Muslim, hat sich immer schon und bis eben erst danach gesehnt, einmal Weihnachten zu feiern. Schicksalsschläge haben dies jedoch immer wieder verhindert – bis zuletzt. Aus dem damaligen Gespräch ist ein Artikel entstanden, in welchem Ebrahimi erzählt, wie er endlich zum ersten Mal Weihnachten feiern wird (SN vom 21. Dezember). Einige Leserinnen haben sich daraufhin gemeldet, gerührt von diesem Mann, der bis heute alles andere als ein einfaches Leben hatte.

Eine von ihnen ist Frau Waldvogel, die an dieser Stelle nicht mit Vornamen genannt werden möchte. Sie kauft der Familie einen Panettone bei Daniele Gaumenschmaus und steckt 400 Franken in eine Karte. «Ich finde es sehr mutig von Herrn Ebrahimi, dass er sich derart exponiert, hinsteht mit seinem Gesicht und von seinem Schicksal berichtet», sagt Waldvogel. Sie habe sich ihr Leben lang für bedürftige Menschen engagiert und werde es auch weiterhin tun. So habe sie sich nun überlegt, den Ebrahimis einen Schrebergarten zur Verfügung zu stellen. «Ich denke, es wäre ein netter Zeitvertreib für die Familie, sie könnten Gemüse anpflanzen und an schönen Tagen etwas Zeit im Garten verbringen», sagt sie. «Es tut der Seele gut, wenn man Pflanzen wachsen sieht.»

«Ich finde es sehr mutig von Ebrahimi, dass er sich derart exponiert, hinsteht mit seinem Gesicht und von seinem Schicksal berichtet.»

Ch. Waldvogel, SN-Leserin

«Ein toller Junge»

Ebrahimi setzt sich in seinem Wohnzimmer auf die Couch. Seine jüngste Tochter Madina streckt ihm derweil ihre nackten Füsse hin, während die dreijährige Rabena ein flauschiges Einhorn an ihren kleinen runden Bauch drückt. «Sie liebt es», sagt Ebrahimi. Zwei Leserinnen der SN haben es zusammen mit einem Plüschschaf und Kleidern für die Kinder vorbeigebracht, wenige Tage nach Veröffentlichung des Artikels. Und auch eine Altbekannte meldet sich unerwartet bei ihm: Es ist Maria Peter, Ebrahimis einstige Deutschlehrerin der Migros-Klubschule. Als sie bei den SN anruft, sagt sie, sie möchte die Familie mit einem Weihnachtsgeschenk überraschen. Auf Ebrahimis Erlaubnis hin werden Telefonnummern getauscht.

«Er sagte damals, dass er alles geben werde, um positiv aufzufallen, als Dank dafür, dass er seine Flucht überlebt hat.»

Maria Peter, Ebrahimis einstige Deutschlehrerin der Migros-Klubschule

Ebrahimi sei ihr seinerzeit als Schüler mit seiner motivierten, lerneifrigen und zielstrebigen Art aufgefallen, sagt Peter. «Er war ein toller Junge. Er sagte damals, dass er alles geben werde, um positiv aufzufallen, als Dank dafür, dass er seine Flucht überlebt hat.» Ebrahimi freut sich über die Kontaktaufnahme. «Es war schön, nach 20 Jahren wieder von ihr zu hören», sagt er und ergänzt: «Niemals hätte ich mit so vielen herzlichen Reaktionen gerechnet.»

Sehnsucht nach der Mutter

Um die Anteilnahme dieser Leserinnen besser zu begreifen, bedarf es eines weiteren kurzen Abstechers in Ebrahimis Vergangenheit: Ebrahimi flüchtet 2000 – 16-jährig – mittels Schleppertrupp aus Afghanistan über Umwege in die Schweiz. Eine traumatisierende Reise. Besonders die Zeit in Griechenland sei hart gewesen. Das griechische Militär habe ihn grün und blau geschlagen. Doch die Schmerzen spürt Ebrahimi kaum. In ihm verbirgt sich ein Kummer, der ihn nach aussen hin betäubt. Er vermisst seine Mutter.

«Wir Afghanen arbeiten hier, unsere ­Familien aber bleiben zurück und sind jeden Tag dem Krieg und den Taliban ausgesetzt, vor allem Hazara wie wir», sagt er. «Ich glaube, wer das nie erlebt hat, kann sich kaum vorstellen, was so ein Leben für einen Druck mit sich bringt.» Ebrahimi hält einen Moment inne, er gibt Rabena einen Kuss. «Der grösste Wunsch meiner Mutter war es, mich wieder zu sehen», fährt er fort, und seine Stimme wird heiser. Er habe immerzu angerufen, zuletzt aber sei es schwieriger geworden, sie zu erreichen. Acht Jahre nach seiner Flucht, Ebrahimi ist 24, reist er das erste Mal zurück nach Kabul. «Ich konnte es kaum erwarten, sie wieder in die Arme zu schliessen. Doch als ich ankam, sagte man mir, sie sei gerade weg und komme morgen.»

Lange habe der Gedanke an sie ein beklemmendes Gefühl in ihm ausgelöst, eine Angst, so quälend, dass er sie immer rasch zur Seite schob. In diesem Moment aber, in seinem alten Zuhause in Kabul, wird sie betäubend gross. «Am nächsten Tag gestand mir meine Familie, dass meine Mutter bereits vor einem Jahr verstorben war. Das hat mir das Herz gebrochen.» In seinen Augen sammeln sich Tränen, die seine Töchter in ihrer Unbeschwertheit nicht sehen –und seine Frau wohl schon oft gesehen hat.

Wenige Tage nach Veröffentlichung des Artikels in dieser Zeitung habe er im Dienste der Findar Immobilien Service, bei der er als Hauswart angestellt ist, am Herrenacker Spinnweben entfernt, erzählt Ebrahimi weiter. Da sei eine elegant gekleidete Dame an ihn herangetreten, ob es sein könnte, dass sie ihn in der Zeitung gesehen habe. Er habe genickt. «Sie sagte, meine Geschichte habe sie berührt und wünschte mir ein frohes neues Jahr.» Ebrahimis Gesicht erhellt sich, er findet es schön, wie in Schaffhausen aufeinander zugegangen wird. «Die Menschen hier sind sehr empathisch.»

Ein anderer Plan

Das vergangene Weihnachtsfest habe eine Wende ausgelöst, ihm neue Hoffnung gegeben, sagt er. Noch immer sei er dabei, geliehenes Geld zurückzuzahlen, rund 40'000 Franken. So viel und noch mehr hat der 38-Jährige damals beigesteuert, um seinen in Kabul gekidnappten Schwager freizukaufen. Ebrahimi entsperrt sein Mobiltelefon und lässt eine Videobotschaft laufen, die den jüngsten Bruder seiner Frau in einem Loch am Boden kniend zeigt; die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden, ein Gewehr auf ihn gerichtet.

Eine fremde Sprache ertönt. Der Geknebelte spricht schnell und ohne Flehen. «Er sagt, er werde gefoltert», übersetzt Ebrahimi und steckt das Mobiltelefon wieder weg. Die positive Resonanz auf seine Geschichte habe ihn berührt, fügt er an. Seine Probleme würden sich dadurch nicht lösen, doch sei es befreiend, seine Geschichte teilen zu dürfen. «Ich habe mich oft gefragt, warum ich damals mit sieben Jahren nicht gestorben bin.» Ebrahimi blickt zu seiner Frau und seinen Töchtern. «Anscheinend hatte das Leben einen anderen Plan für mich.»

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