«Weihnachten war immer eine traurige Zeit»

Damiana Mariani | 
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Lange schon hegt Razeq Ebrahimi den Wunsch, mit seiner Familie Weihnachten feiern zu können. Diesen Samstag wird er in Erfüllung gehen. Bild: Sandy Hedinger

Mit 16 flüchtete Razeq Ebrahimi aus Afghanistan und erreicht Monate darauf, kurz vor Weihnachten, Schaffhausen. Doch an Feiern ist nicht zu denken. Die vergangenen 22 Jahre wird Heiligabend von Traurigkeit überschattet. In diesem Jahr aber wird alles anders werden.

Das erste Mal erfährt Razeq Ebrahimi im Fernsehen von Weihnachten, zu Hause in Kabul. Er ist 13. Verdient bereits Geld für die Familie, indem er Teppiche webt und flickt. Während vor der Haustür ein ewiger Krieg tobt, scheint die Welt auf dem Bildschirm geradezu perfekt. Da sind festlich geschmückte Tannenbäu­me, ein weissbärtiger Mann im roten Mantel, Schnee. Vor allem aber sind da fröh­liche Stimmung und friedvolles Zusammensein – eine Traumwelt. «Das habe ich mir auch gewünscht», sagt Ebrahimi heute.

In seinem Keller liegen Schachteln, gefüllt mit Christbaumkugeln. Er hat sie mit dem Gehalt seiner ersten Arbeitsstelle in Schaffhausen gekauft. In der Hoffnung, ja, festen Absicht, genauso schöne Weihnachten feiern zu können, wie er es als Heranwachsender im Fernsehen gesehen hatte. Dazu gekommen ist es nie. «Weihnachten war immer eine traurige Zeit», sagt Ebrahimi nun.

Er sitzt auf der beigefarbenen Couch seiner Wohnung mit Sicht auf den Rhein, seine Frau Basira Ebrahimi neben ihm, die einjährige Tochter Madina auf dem Schoss, während die dreijährige Rabena von seinem rutscht, sich ein Stück Kuchen schnappt und in den Mund schiebt. Basira Ebrahimi hat Kuchen, Schokolade und Safrantee bereitgestellt. Im Hintergrund läuft der Fernseher, der Ton ist aus. Die Kinder nehmen davon keine Notiz, spannender sind die Süssigkeiten auf dem Tisch und das Mobiltelefon, mit dem das Gespräch aufgezeichnet wird.

In Afghanistan wird kaum Weihnachten gefeiert, da die meisten Menschen Muslime sind, so auch die Ebrahimis. Auch gibt es kein Silvester. Dafür feiern die Afghanen am 20. März Nouruz, den Frühlingsanfang. Dann besuchen sich Familien tagsüber, um sich ein frohes neues Jahr zu wünschen. Und oft wird gegrillt. Dass Weihnachten in manchen Ländern, etwa Somalia, gar verboten ist, findet Ebrahimi schade, «sie wissen offenbar nicht, was Weihnachten bedeutet», sagt er losgelöst von seinem religiösem Glauben. «Wie kann man ein Fest der Liebe verbieten?»

289'000 Dollar Lösegeld

Razeq Ebrahimi erreicht Schaffhausen am 22. Dezember 2000, kurz vor Weihnachten. Er ist 16. Seine Familie hat einen Schleppertrupp bezahlt, der ihn von Afghanistan nach Pakistan bringt. Von dort geht es weiter in den Iran und später in die Türkei, wo er sechs Monate bleibt. Dann Griechenland. Während 38 Stunden harrt Ebrahimi bei klirrender Kälte in einer Holzkiste unter einem Lastwagen aus. Schliesslich bringt ihn ein Schiff nach Italien, von wo es weiter nach Frankreich geht, dann in die Schweiz. Ebrahimi kommt im Durchgangszentrum Friedeck unter. Die Flucht sei hart gewesen, sagt er, er sei oft geschlagen worden, vor allem vom griechischen Militär.

«Meine Familie gehört dem Volk der Hazara an, die Taliban köpfen Menschen wie uns.»

Razeq Ebrahimi, geflüchtet aus Afghanistan

Angst aber habe er keine gehabt. In Kabul dagegen habe er um sein Leben gefürchtet. «Meine Familie gehört dem Volk der Hazara an, die Taliban köpfen Menschen wie uns.» Sie kidnappten Familienmitglieder und forderten für den Tausch Geld, das die Angehörigen selten aufbringen können. Unlängst wurde ein Verwandter Ebrahimis als Geisel gefangen genommen. Die Entführer verlangten 289'000 Dollar Lösegeld. «Wir haben eine Videobotschaft erhalten, in der er verprügelt wurde. Er blutete am ganzen Körper, weinte, seine Augen zerschlagen. So ein Video bewegt viel», sagt Ebrahimi. «Alle waren krank vor Sorge.» Er habe finanzielle Unterstützung geleistet, Geld geschickt, sich damit selbst in Bedrängnis gebracht, die Familie vor Ort hat alles verkauft, Schulden angehäuft und so den Gefangenen freikaufen können. Mittlerweile sind die Verwandten aus Kabul geflüchtet und in der Türkei angekommen.

Weihnachten bleibt aus

2000, in Schaffhausen, erlebt Ebrahimi sein erstes Weihnachten, aber an Feiern ist nicht zu denken. 2008 erlangt Ebrahimi Status B, er findet Arbeit und eine Bleibe, ein Zuhause ist es noch nicht, hierfür sind die Räume zu leer.

Ebrahimi ist oft einsam: «An Weihnachten war ich immer alleine, ich hab dann mit meiner Familie telefoniert, gefeiert habe ich nie.» Mittlerweile sind seine Mutter und sein Vater verstorben. Wegen des Krieges? Ebrahimi senkt den Kopf, «letztlich bringt uns der Krieg alle um, auch wenn keine Kugeln dich töten, tötet dich die Armut oder die Angst, die dich krank macht.» Seine Geschwister – eine Schwester, drei Brüder – sind alle aus Afghanistan geflohen. Nun gibt es für Ebrahimi auch keinen Grund mehr, zurück nach Kabul zu reisen, ohnehin nicht jetzt, da die Taliban die Macht übernommen haben.

«An Weihnachten war ich immer alleine, ich hab dann mit meiner Familie tele­foniert, gefeiert habe ich nie.»

Razeq Ebrahimi, geflüchtet aus Afghanistan

Noch vor ein paar Jahren war das anders. Nachdem Ebrahimi Status B erlangt hat, besucht er einmal im Jahr seine alte Heimat und lernt bei einem dieser Besuche, 2014, seine Frau kennen. Basira, neun Jahre jünger, schüchtern, aber gesprächig, mit einem hingebungsvollen, weichen Gesicht verliebt sich in ihn und er sich Hals über Kopf in sie. Doch Basiras Eltern wollen von den romantischen Gefühlen nichts wissen, sie möchten ihre Tochter an einen älteren Mann verkaufen. Razeq Ebrahimi kann das nicht zulassen, er verschafft Basira ein Visum, die Flucht nach Schaffhausen gelingt. Noch im selben Jahr heiraten die beiden. «Ihre Eltern und Brüder haben mir das lange vorgeworfen. Mittlerweile haben sie mir vergeben», sagt Razeq Ebrahimi.

Eine positive Wende

«Ich war 17 Jahre einsam an Weihnachten», fährt er fort und blickt zu Basira Ebrahimi. «Nun hatte ich endlich meine Frau bei mir, ich wollte mit ihr feiern.» Aber dann verletzt sich Razeq Ebrahimi am Knie, die kommenden Weihnachten werden von seinen Knieschmerzen überschattet, schliesslich muss er operieren, wird krankgeschrieben und verliert seinen Job. Das Geld wird knapp. Und wieder fällt Weihnachten aus.

Seit November 2021 arbeitet Razeq Eb­rahimi bei Findar Immobilien Service als Hauswart. Die Arbeit bringt ihm ein regelmässiges Einkommen und bedeutet ihm viel. «In diesem Jahr werden wir das erste Mal Weihnachten feiern», sagt er feierlich und zündet eine Kerze an. «Meine Frau wird etwas Wunderbares kochen, wir werden einen Christbaum kaufen und ihn schmücken.» An Geschenke denkt Ebrahimi dabei nicht, zu gross sei der Druck, die Familie ernähren zu können. Vielmehr gehe es ihm um den eigentlichen, ursprünglichen Gedanken von Weihnachten als Fest der Liebe.

Rabena hat zwei Stück Kuchen gegessen und ein drittes angefangen, sie hält ihrem Papa was davon übrig geblieben ist vor den Mund. «Ja, ich esse das», sagt Razeq Ebrahimi geduldig und lächelt zufrieden. «Es werden schöne Weihnachten werden. Und das ist auch mein Herzenswunsch: dass alle Menschen auf der Welt, egal, welcher Ethnie, welcher Religion, zusammen friedlich feiern können.»

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