Demenz: Wenn die Vergangenheit verloren geht

Damiana Mariani | 
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Mengia Olbrechts Ehemann ist einer von geschätzt 1700 Menschen, die im Kanton Schaffhausen mit Demenz leben. Bild: Michael Kessler

Heute ist Welt-Alzheimer-Tag. Rund 1700 Menschen leiden in Schaffhausen an einer Form von Demenz. Vor einen Jahr hat die SN die Demenzabteilung im Beringer Altersheim Ruhesitz besucht.

Damiana Mariani Mengia Olbrecht streicht ihrem Ehemann liebevoll über den Arm. Er sitzt im Rollstuhl, die Knie aneinander gepresst. Sie beugt sich zu ihm vor. «Heute ist ein Fotograf hier», sagt sie und lächelt. «Er macht ein Föteli von dir.» Warum der Fotograf an diesem Nachmittag im Altersheim Ruhesitz in Beringen ein Foto von ihm macht und höchstwahrscheinlich auch, dass er es von ihm macht, wird Olbrechts Mann nicht begreifen und auch nicht mitbekommen. Seine kognitiven Fähigkeiten haben schon vor Jahren nachgelassen, er ist tief versunken in seiner eigenen Welt. Vor neun Jahren hat eine Ärztin die gefürchtete Diagnose gestellt: Willi Olbrecht leidet an Demenz. An welcher der hundert möglichen Formen, weiss seine Frau nicht, sie hat es nicht weiter abklären lassen. «Wozu auch», sagt sie.

Knapp fünf Jahre betreute Olbrecht ihren Mann zu Hause. Mit ihren Kräften am Ende raufte sie sich schliesslich zusammen und suchte nach einem geeigneten Alters- und Pflegeheim.

Von der Ehefrau zur Fremden

«Die Symptome kamen schleichend», erinnert sich Olbrecht. «Er wurde sehr vergesslich, hat Dinge verlegt, manchmal an den seltsamsten Orten.» Irgendwann habe er angefangen, sie zu siezen, da wusste sie, dass die gemeinsame, doch so wertvolle Erinnerung nun verblasst, sie zur Fremden geworden war. «Er hat mich gefragt: <Bleiben Sie heute hier oder schlafen Sie zu Hause?> Das hat mich erschreckt.» Auch zu Hause habe er sich nicht mehr ausgekannt, nachts fand er die Toilette nicht und verrichtete seine Notdurft eben dort, wo er gerade gestanden habe. Länger als zwei Stunden am Stück habe sie nie geschlafen. «Das hat an meinen Kräften gezerrt.»

«Er wurde sehr vergesslich, hat Dinge verlegt, manchmal an den seltsamsten Orten.»
Mengia Olbrecht, Ehefrau eines Menschen mit Demenz

Morgens habe er manchmal innert weniger Stunden ein Kilo Äpfel verzehrt, wenn sie das kommentiert habe, sei er wütend geworden und habe ihr vorgeworfen, nicht einmal einen Apfel möge sie ihm gönnen. «Damals haben wir oft gestritten», sagt Olbrecht und Tränen treten ihr in die Augen. «Das tut mir heute noch leid.» Fremdbeschuldigungen, wie Frau Olbrecht sie beschreibt, werden von Menschen mit Demenz häufig geäussert, weiss Franziska Gysin, Expertin Pflege und Betreuung im Ruhesitz: «Darum ist fachliche Unterstützung für die Angehörigen bedeutend, damit sie diese einordnen können.» Hierfür brauche es das richtige Werkzeug, so Gysin, Validation sei eines davon. Dabei geht es darum, den Menschen mit einer wertschätzenden Haltung zu begegnen, sie nicht zu korrigieren, sondern sich zu bemühen, ihre Antriebe zu verstehen.

55 Millionen Betroffene

Im «Stübli» des Ruhesitz können sich die Bewohner mit Demenz die Zeit vertreiben. Am Donnerstagnachmittag sind es acht an der Zahl, vier Männer und vier Frauen. Wenn auch in diesem Moment nicht in der Überzahl, sind Frauen mit 60 Prozent häufiger von Demenz betroffen. Man vermutet, es liege an ihrer längeren Lebenserwartung. Das Alter gilt noch immer als einer der Hauptfaktoren für die Zunahme von Menschen mit Demenz. Laut der Nationalen Plattform Demenz leben in der Schweiz schätzungsweise gegen 146'500 Menschen mit Demenz, jährlich kommen rund 31'400 Neuerkrankungen hinzu. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass die Zahl der Menschen mit Demenz deutlich steigen wird. 2019 waren nach Schätzungen der WHO 55 Millionen Menschen betroffen. 2050 sollen es mit 153 Millionen fast dreimal so viele sein. Mit der deutlichen Zunahme werden auch die Kosten steigen. Gemäss einer im Auftrag von Alzheimer Schweiz erstellten Studie verursachten Demenzerkrankungen bereits im Jahr 2017 volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von 11,8 Milliarden Franken.

Die Alzheimer-Krankheit ist mit rund 65 Prozent aller Fälle die häufigste Form der Demenz. Und auch eine jener Formen, mit denen die Pflegefachkräfte im Ruhesitz am häufigsten konfrontiert sind, neben der vaskulären Demenz, der Frontotemporale Demenz, der Demenz bei Morbus Parkinson, dem Korsakow-Syndrom und der Lewy-Körper-Demenz. Bei den Leitsymptomen wird grundsätzlich von den sechs A gesprochen: Amnesie (Gedächtnisstörung), Agnosie (Wahrnehmungsstörung), Apraxie (Störung der Motorik), Aphasie (Sprachstörung), Assessment-Störung (Störung der Urteilskraft) und Abstraktionsfähigkeitsverlust. Die Krankheit kündigt sich oftmals mit einer Störung des Kurzzeitgedächtnisses an. «Man kann den Verlauf grob in drei Stadien unterteilen, frühes, mittleres und spätes Stadium», sagt Gysin. Dabei handle es sich indes um eine künstliche Unterteilung, die in der Symptomatik oft variiere. «Fakt ist: Die Krankheit schreitet voran, manchmal langsam, manchmal sehr schnell.»

Und dann war da eine andere

Olbrechts Ehemann wohnt seit vier Jahren im Ruhesitz. Er macht gerade ein Nickerchen, als wir ihn besuchen. Der 85-Jährige scheint von seiner Umgebung nicht mehr viel mitzubekommen, er murmelt nur, hält keinen Blickkontakt. «Die Herausforderung bei der Betreuung von Menschen mit Demenz liegt darin, sensibel erfassen zu können, wie es um ihre aktuelle Befindlichkeit steht», sagt Gysin. Von Konzepten, in denen sogenannte Scheinbushaltestellen aufgebaut werden, um auf die gesponnenen Geschichten der Patienten besser eingehen zu können, hält sie wenig. «Wir dürfen nicht vergessen, das es sich hier um erwachsene Menschen handelt, die ernst genommen werden möchten. Ich finde es wichtig, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und nicht mit Täuschungen zu arbeiten.»

An diesem Nachmittag ist es auffallend ruhig im «Stübli», eine Frau mit Demenz schläft auf der Couch, eine andere rührt ausgiebig in ihrem Joghurt, wieder eine andere tastet die Augen zu Schlitzen gezogen einen Tisch ab, während die Vierte mit einer gerollten Zeitung in der Hand geschäftig Runden dreht. Sie wird so einige Kilometer zurücklegen. Ein Mann italienischer Abstammung unterhält sich derweil lebendig gestikulierend mit einem Pfleger. Im Bücherregal hinter ihm reihen sich Agatha-Christie-Romane neben einem steinernen Engel. Eine Glastür gibt die Sicht in den Garten frei; da leben Hühner, Ziegen und Zwerghasen. Olbrechts Mann mag die Tiere. «Er streckt die Hand nach ihnen aus», sagt Olbrecht. Sie besucht ihren Willi im Moment einmal pro Woche für ein paar Stunden. Als er noch frisch im Ruhesitz eingezogen war, kam sie regelmässig.

Dann, eines Tages, habe sie ihren Mann mit einer anderen Frau am Tisch sitzen gesehen, Händchen haltend. «Ich bin zu ihm hin und habe ihn gefragt, wer das sei. Er antwortet auf die Fremde zeigend: <Das ist Margrit, meine Frau.>» Die beiden hätten eine Weile Zärtlichkeiten getauscht. Gekränkt habe sie das nicht. Im Gegenteil, sie sei erfreut gewesen, dass es ihm gut ging. «Wenn wir zusammen durch den Park spaziert sind, hab ich seine Freundin mitgenommen. Lange gehalten hat es aber nicht.»

Die Risikofaktoren

Immer wieder heisst es von Fachpersonen, die eigentlich Leidtragenden seien die Angehörigen, nicht die Betroffenen selbst. Ist die Krankheit fortgeschritten, wissen sie nicht mehr, dass sie dement sind. Im Anfangsstadium dagegen bemerke der Patient die Veränderung sehr wohl. Sei der Leidensdruck in dieser Phase gross, so Gysin, komme es in der Regel zu einer Diagnose. «Die Erkenntnis ist dann eine grosse Hilfe. Sie können dann anfangen, komplexe Arbeiten zu reduzieren. Von Demenz sind ja auch Menschen betroffen, die noch im Berufsleben stehen.» Oftmals glaubten diese irrtümlicherweise, sie litten an einem Burn-out.

Die Einnahme von Viagra, Kaffeetrinken, Schachspielen, Fahrradfahren – fast monatlich tauchen neue Theorien auf, wie sich Demenz verhindern lässt. Nachhaltig hält sich die Erkenntnis, dass ein gesunder Lebensstil mit ausreichend Bewegung, gesunder Ernährung, aber auch eine gute Schulbildung und lebendige soziale Kontakte das Risiko, an Demenz zu erkranken, reduzieren. Als Risikofaktoren gelten dagegen Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Depressionen und soziale Isolation. Rauchen und übermässiger Alkoholgenuss zählen ebenso dazu. Nach Angaben der WHO ist Demenz derzeit die siebthäufigste Todesursache weltweit. Olbrecht kämpfte lange Zeit mit einem schlechten Gewissen, weil sie ihren Mann ins Altersheim gebracht hat. Heute weiss sie, es war die richtige Entscheidung. Die Gespräche mit den Fachkräften im Heim haben ihr gutgetan, ihr geholfen, die Krankheit ihres Mannes zu tragen. Mittlerweile besucht Olbrecht regelmässig eine Selbsthilfegruppe zur Thematik. «Anfangs wollte ich davon nichts wissen, ich dachte, was will ich mir die Probleme anderer anhören, ich hab selber genug. Aber dann hat es mir gutgetan.»

Sie habe sich das Leben anders vorgestellt, sagt sie auf die Zeit nach der Pensionierung angesprochen. Wenn man jung sei und mitten im Arbeitsleben stehe, wähne man sich in einer falschen Sicherheit: «Man denkt dann, wenn man einmal in Rente ist, habe man noch viel Zeit, dies und jenes zusammen zu erleben. Da kann man sich täuschen.» Olbrecht rührt in ihrem Kaffee. «So oder so muss man aus allem das Beste machen.»

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