5er-Reihen, Verben und Omeletten

Der Kantonsrat hat ein neues Schulgesetz verabschiedet, das für den privaten Unterricht strengere Regeln enthält. Dagegen hat eine Gruppe von Homeschoolern das Referendum ergriffen. Mit dabei ist auch Marlies Schum, die ihren Sohn zu Hause unterrichtet.
Der Schultag beginnt für den Drittklässler um 8 Uhr mit einem Ritual: Er füttert Vögel. Schauplatz ist aber nicht etwa ein Schulhaus, sondern ein ehemaliges Restaurant in Buch. Es ist das Zuhause von S. und seinen Eltern Marlies und Urs Schum. Sie teilen es mit über 50 Vögeln, darunter viele Papageien. Nach der Fütterrunde setzen sich Mutter und Sohn an einen langen Tisch. Auf diesem liegen Ordner, Hefte und Stifte bereit. Marlies Schum beginnt mit dem Unterricht.
«Seit Januar 2022 unterrichten wir unser Kind zu Hause. Warum? Weil es unserem Sohn nicht gut ging in der Schule.»
Marlies und Urs Schum Eltern von S.
Ob das die ausgebildete Innendekorationsnäherin auch künftig darf, ist ungewiss. Denn im Juni hat das Kantonsparlament ein neues Schulgesetz verabschiedet – und mit ihm strengere Regeln für den privaten Unterricht und den Unterricht an Privatschulen. Neu müssen die Unterrichtenden über ein eidgenössisch anerkanntes Lehrdiplom verfügen. Ein solches hat Ehemann Urs Schum; er arbeitet allerdings angestellt als Primarlehrer an einer Schule. Gegen das neue Schulgesetz hat eine Gruppe von Homeschoolern das Referendum ergriffen. Marlies Schum engagiert sich derzeit als Unterschriftensammlerin.
In der Schule geplagt
«Seit Januar 2022 unterrichten wir unser Kind zu Hause. Warum? Weil es unserem Sohn nicht gut ging in der Schule und wir bereit sind, unser Bestes für ihn zu geben.» Mit diesen Zeilen hat sich das Ehepaar Schum an die SN gewandt. Was genau vorgefallen ist, lässt sich an dieser Stelle nicht eruieren. Für Marlies Schum steht fest, dass ihr Sohn in der Schule geplagt wurde. «Ich konnte nicht weiter zusehen», sagt sie. Nach einem gescheiterten zweiten Versuch in einer neuen Konstellation blieb aus ihrer Sicht nur noch Homeschooling. Das entsprechende Gesuch wurde vom Erziehungsdepartement bewilligt.
Nun sitzen also Mutter und Sohn in der ehemaligen Gaststube, die von den Dimensionen her an ein Klassenzimmer erinnert. Nur sind da keine anderen Kinder zu hören, sondern die Vögel, die in angrenzenden Räumen untergebracht sind. An diesem Mittwoch steht ein weiteres Schweiz-Puzzle auf dem Programm. «Mein Sohn hat sich das gewünscht», sagt Schum. Der Kanton Baselland ist an der Reihe. Wie dort die Hauptstadt heisse, will sie wissen. «Liestal», sagt der Junge und lacht. Dann folgt der Kanton Solothurn. «Lustig wird es, wenn du den Kanton Schaffhausen ausschneidest», sagt sie.
«Du machst das gut»
Das Puzzleteil klebt S. auf ein grosses Plakat, das an der ehemaligen Bar hängt. Die Schweiz ist noch lange nicht vollständig. Auf den bereits bestehenden Kantonen sind die Hauptstädte eingetragen. Unter Anleitung der Mutter beginnt er ein von ihr vorbereitetes Faktenpapier auszufüllen. Die Mutter erklärt, hilft und spornt an. «Du machst das gut», sagt sie oder «Du schreibst immer schöner». Der 9-Jährige arbeitet ruhig und konzentriert. Dann geht es weiter, die Treppe hoch auf die Galerie, vorbei an Musikinstrumenten – «das ist meine Harfe» – zu den Arbeitsplätzen mit PC. Die Aufgabe: Sehenswürdigkeiten in Solothurn suchen und notieren. Langsam lässt die Konzentration nach. Die Mutter motiviert. «Komm, eine schaffst du noch.»
Das selbstständige Arbeiten müsse noch besser werden, sagt Marlies Schum während einer kurzen Pause. «Er braucht noch relativ viel Begleitung.» Der Bub sprintet derweil im Raum herum und sucht etwas zusammen. Dann präsentiert er dem Besuch Bücher zur Luftfahrt und zwei Raumschiffe aus Lego. Das eine ist rund einen Meter gross und besteht aus vielen kleinen Bausteinen. «Ich habe fast alles selber gemacht», sagt er stolz.
Deutsch, Mundart, Niederländisch
Marlies Schum investiert viel Zeit in den Unterricht. Für die 5er-Reihe, die an diesem Tag ebenfalls auf dem Programm steht, hat sie Fünfräppler gesammelt. Ihr Sohn klebt sie auf ein Papier. Zusammen gehen sie die Rechenbeispiele durch. Es läuft nicht ganz so flüssig wie der erste Themenblock. Rechnen zählt nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen von S. Vor der grossen Pause steht noch eine Runde Verben konjugieren an. Hochdeutsch, Mundart und Niederländisch. Warum bloss Niederländisch? Sie selber sei daran, die Sprache zu lernen, sagt Schum später, wegen der Papageien. Der Sohn wolle nun auch.
In der grossen Pause klingelt es an der Haustür. Eva Brütsch schaut mit zwei ihrer drei Kinder vorbei. Sie wollen bei Schum Kartoffeln abholen. Brütsch lebt mit ihrer Familie in Ramsen und unterrichtet zusammen mit ihrem Mann ihre Kinder schon seit bald fünf Jahren selber. Ihr ältestes Kind sei im Kindergarten nicht zurechtgekommen und von einer Ärztin krank geschrieben worden. Brütschs haben sich ihr Recht auf Homeschooling mit einem Rekurs bis vor Obergericht erkämpft. Jetzt setzen sie sich für möglichst unkompliziertes privates Unterrichten ein – auch für diejenigen ohne Lehrdiplom. «Längst nicht alle von uns verfügen über eines», sagt die gelernte Kindergärtnerin, die auch noch ausser Haus arbeitet.
Fehlende soziale Kontakte
Das Hauptargument gegen Homeschooling – laut Brütsch die fehlenden sozialen Kontakte – treffe nicht zu. Ihre Kinder würden die kirchliche Jugendarbeit besuchen und an wöchentlich stattfindenden Sportanlässen teilnehmen. Auch sei in den letzten Monaten der Kontakt und Austausch zwischen den Homeschooling-Eltern intensiviert worden.
Wie steht es um die Unterrichtsqualität? Die Frauen verweisen auf die Kontrolle durch das Erziehungsdepartement. Sie dürfe mit ihrem Diplom ihre Kinder bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit unterrichten, so Brütsch. Schum hatte im Verlauf des Morgens auch einmal geseufzt. Die Beschäftigung mit dem Unterricht zeige ihr, was sie selber alles nicht wisse. Wie lange für ihr Sohn Homeschooling die richtige Lösung ist, kann sie nicht sagen. Aktuell sei es aber undenkbar, ihn zurück in die Volksschule zu geben. Kommt das Gesetz wie vom Parlament verabschiedet, sei das für sie «sehr schlimm».
Noch ist nichts entschieden. Für Marlies Schum und ihren Sohn geht es nach der grossen Pause weiter. Auf dem Programm steht eine angefangene Handarbeit. Dann soll S. möglichst selbstständig einen Omelettenteig machen.
Nachfrage nach Homeschooling ist stark gestiegen
Vor der Pandemie war der private Unterricht zu Hause im Kanton Schaffhausen eine Randerscheinung. Laut Ruth Marxer, Leiterin der kantonalen Dienststelle Primar- und Sekundarstufe I, hat der Erziehungsrat damals jeweils 2 bis 4 Bewilligungen pro Jahr erteilt. Im Schuljahr 2021/22 seien vom Erziehungsrat 29 Bewilligungen für 50 Kinder erteilt worden. «4 davon für eine Reise, 14 für das 2. Semester und 11 für den Zeitraum zwischen März/April und Juli 2022.» Im angelaufenen Schuljahr sind es 23 Bewilligungen für 36 Kinder. Die Bewilligung wurde jeweils für ein Semester erteilt.
Der Anstieg der Gesuche dürfte auch mit einem Rekurs aus dem Jahr 2020 zusammenhängen. Der Regierungsrat sah es nicht als gegeben an, dass für Homeschooling ein Lehrdiplom nötig sei. «Der Erziehungsrat musste seine langjährige Praxis bei der Bewilligung von Gesuchen vorübergehend anpassen», schreibt Marxer dazu. «Mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf sollen die ehemals strengeren Rahmenbedingungen für die Bewilligung entsprechender Gesuche festgeschrieben werden.»
30 Prozent haben Lehrdiplom
In den meisten Fällen ist es ein Elternteil, welcher die Kinder zu Hause unterrichtet. Zum Teil würden einzelne Lerninhalte von anderen Familienmitgliedern übernommen. «In einzelnen Fällen arbeiten die Familien auch zusammen», so Marxer weiter. Über ein Lehrdiplom verfügen momentan zirka 30 Prozent der Unterrichtenden.
Jede Familie im privaten Unterricht wird einmal pro Semester zu Hause besucht. Dabei gehe es darum, die Familien kennenzulernen und einen Einblick in den Unterricht zu erhalten, wobei der Fokus auch auf einzelne Fächer gelegt werden könne. «Die Inspektorinnen und Inspektoren achten darauf, ob Lehrmittel und Themen, die in der Jahresplanung angegeben wurden, auch wirklich behandelt werden.» Ausserdem müssen die Familien jeweils nach einem Semester einen Bericht abgeben, in dem sie festhalten, was im vergangenen Semester erarbeitet wurde. Die Jahresplanung wird vom Erziehungsrat abgenommen.
Keine Gegenstimme im Rat
Der Kantonsrat hat das neue Schulgesetz mit den strengeren Regeln für den privaten Unterricht und Privatschulen im Juni mit 51 zu 0 Stimmen verabschiedet. Eine Gruppe von Homeschoolern will gegen die Vorlage das Referendum ergreifen und sammelt dafür Unterschriften. Am Samstag ist sie ab 10 Uhr mit einer Standaktion auf dem Fronwagplatz vertreten. Kommen die erforderlichen 1000 Unterschriften zusammen, wird an der Urne abgestimmt.