Kremlkritischer Journalismus dank Schaffhauser Verein

Alexander Vitolić | 
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Nicht nur im Leben, auch in der Berufung gemeinsam unterwegs: Daniel Thüler, Präsident des Vereins «Friends of Novaya Gazeta Europe», und seine Partnerin Ekaterina ­Glikman, Redaktorin des Webportals. Bild: Melanie Duchene

Ende März musste die letzte unabhängige Zeitung in Moskau ihre Redaktionsräume schliessen. Im Exil ist darauf das regimekritische ­Online-Portal «Nowaya Gazeta Europe» entstanden. Ein Verein aus Schaffhausen soll nun helfen, dessen publizistische Zukunft zu sichern.

Fast 30 Jahre lang war die «Nowaya Gazeta» eine der wenigen, zuletzt sogar die einzige Zeitung, die sich in Russland regimekritisch äusserte und Russinnen und Russen einen unabhängigen Blick auf die Geschehnisse in ihrem Land ermöglichte. Noch im November 2021 erhielt der Chefredaktor Dmitri Muratow für seinen «herausragenden Beitrag zur Meinungs­freiheit» den Friedensnobelpreis. 32 Tage nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine musste aber auch er vor der Macht des Präsiden­ten kapitulieren und die Redaktion in Moskau räumen.

In Anbetracht ihrer gefährdeten persönlichen Sicherheit entschied sich ein grosser Teil des redaktionellen Teams, möglichst rasch ins Exil zu gehen – und von dort aus weiterzuarbeiten. Wenige Wochen später, am 20. April, ging die Webseite «Nowaya Gazeta Europe» online – mit dem erklärten Ziel, die Leserschaft der Zeitung weiterhin und trotz der Zensur im eigenen Land zu informieren. Neun Tage später wurde sie in Russland von der Medienaufsichtsbehörde wegen «zahlreicher Falschmeldungen über die russische Armee» gesperrt.

Im Ausland wächst die Leserschaft umso stärker, auch weil viele Beiträge ins Englische übersetzt worden sind – und von anderen Medien aufgenommen. Wer sie in Russland aufrufen will, braucht indes eine VPN-Verbindung, welche das Herkunftsland der Anfrage verschleiert.

Unzensiert und unfinanziert

Das Projekt startete «ohne Investoren, ohne registriertes Unternehmen, ohne Bankkonten, mit einem Minimum an Hab und Gut und ohne Ersparnisse», wie es in einer Medienmitteilung des Chefredaktors Kirill Martynov von gestern Montag heisst. Die Zeitung werde weiter existieren, obwohl Putin wolle, dass sie verschwindet. Der Hauptsitz ist in Riga. 52 Journalistinnen und Journalisten sind für die Seite tätig, verteilt in ganz Europa.

«Als Journalist in einem sicheren und neutralen Land habe ich nach einer Möglich­keit ­gesucht, wie ich meine russischen ­Kollegen unterstützen kann.»

Daniel Thüler, Präsident «Friends of Novaya Gazeta Europe»

Doch ganz ohne Finanzierung geht es nicht. Der Schaffhauser Journalist Daniel Thüler, dessen Lebenspartnerin Ekaterina Glikman als Redaktorin für die «Gazeta» schreibt, ruft deshalb den Verein «Friends of Novaya Gazeta Europe» ins Leben: «Der Schaffhauser Verein, der nach Schweizer Recht geführt wird», so Thüler, «soll durch Mitglieder­beiträge und Spenden die junge Online-Zeitung und die aufwendige Arbeit des Teams finanzieren.»

Denn da wird nicht nur geschrieben und argumentiert, auch jedes Detail wird – sofern das unter den gegebenen Umständen möglich ist – auf seine Richtigkeit hin überprüft, denn grade das macht die Glaubwürdigkeit der Gazeta aus, wie Ekaterina Glikman im Gespräch in Schaffhausen anfügt: «Wir publizieren aktuell jeden Tag fünf bis sechs lange Artikel auf der Webseite, dazu kommen Podcasts, Videobeiträge und Kurzmeldungen. All das mit einem Drittel des ehemaligen Teams.» Glikman ist schon seit Beginn stellvertretende Chefredaktorin und wird diese Woche von der ProLitteris für ihre frühere Tätigkeit bei der Zeitung und ihr Engagement für die «Novaya Gazeta Europe» ausgezeichnet.

Unterstützung aus Schweizer Hand

Dass der Verein seinen Sitz in der Schweiz hat, macht auch aus politischer Sicht Sinn, wie Präsident Daniel Thüler in der Medienmitteilung schreibt: «Als Journalist, der in einem sicheren und neutralen Land lebt, habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, wie ich meine russischen Kolleginnen und Kollegen unterstützen kann, die aus ihrem Land fliehen mussten und in Gefahr leben, nur weil sie ihren Job machen.» Bei der Gründung zur Seite standen dem 45-Jährigen Tatiana Skakauskis von der altra in Schaffhausen als Kassierin und der IT-Spezialist Dieter Herzmann.

Glikman zeigt sich fast überrascht von so viel Solidarität: «Dieter kannten wir privat gar nicht, aber als er durch meinen Mann vom Projekt hörte, meinte er nur, das sei das einzig Richtige, was es jetzt zu tun gebe.»

Wohlgemerkt: Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Webseite stehen keine Schweizer Leserinnen oder Leser, die Webseite richtet sich als unabhängige und seriöse Informationsquelle nach wie vor in erster Linie an die russisch­sprachige Bevölkerung in der ganzen Welt, die erfahren will, was in Russland geschieht. «Wir sprechen hier von rund 120 Millionen Menschen, die keinen Zugang zu einer nicht staatlich kontrollierten Nachrichtenquelle aus ihrer Heimat haben», rechnet Daniel Thüler vor.

Friedensnobelmedaille versteigert

Zu einem publikumswirksamen Event, der dem neuen Medium ebenso sehr viel Aufmerksamkeit verschaffen dürfte, kam es zudem in der Nacht auf Dienstag. Dimitri Muratow, der Chefredaktor der gedruckten «Nowaya Gazeta» versteigerte in New York seine Friedensnobelmedaille für einen guten Zweck. Der gesamte Erlös der Auktion geht an Unicef, um geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen. Der Preis ging letztlich für 103,5 Million Dollar an einen neuen Besitzer. 

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