Schaffhauser Landgemeinden fühlen sich bevormundet und abgehängt

Mark Liebenberg | 
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Beschaulichkeit und Natur pur auf dem Land (Bild: Wilchingen) – aber den Gemeinden ausserhalb der Agglomerationskernzone droht mit der kommenden gezielten Lenkung der Siedlungsentwicklung viel Ungemach. Bild: Selwyn Hoffmann

Periphere Gemeinden im Kanton fühlen sich in jüngster Zeit zusehends bevormundet und von der Entwicklung abgehängt.

Es ist gut zwei Jahre her, seit die Schaffhauser Stimmbevölkerung eine grössere Strukturreform im Kanton bachab geschickt hat. Weder von einem Einheitskanton noch von der Bildung weniger, grosser Gemeinden wollte das Volk etwas wissen. Ein klares Votum für die bisherige kleinräumige föderalistische Struktur mit 26 Gemeinden im Kanton Schaffhausen und für die Bei­behaltung der Gemeindeautonomie.

Trotzdem scheinen sich die Gewichte im Kanton zusehends zuungunsten der kleinen, ländlichen Gemeinden zu verschieben: Dies zeigt eine Reihe von Entscheidungen der letzten Jahre. Während der Ballungsraum zwischen Thayngen, der Stadt, Neuhausen und Beringen als eigentliche Wachstumsachse floriert, haben die Gemeinden auf dem Land das Nachsehen. Gleichzeitig sind in der Alterspflege, bei der Schulinfrastruktur, bei der Sozialhilfe und bei der ­Instandhaltung der Verkehrswege und der kommunalen Infrastruktur alle Gemeinden gleichermassen gefordert.

Knackpunkt Siedlungsentwicklung

Kein Wunder, entsteht auf dem Land Unmut. Einige Beispiele: Die Ausdünnung des Angebots auf einer Buslinie, die den hinteren Klettgau mit der Kantonshauptstadt verbindet, stiess 2017 auf erbitterten Widerstand. Der Kanton musste einlenken. Manch kleine Gemeinde ächzt unter Kesb-Massnahmen, die von der kantonalen Behörde beschlossen werden; der Kantonsrat musste hier die Notbremse ziehen und die Lasten neu verteilen. Ebenfalls im Kantonsparlament wird die Verlegung des Zivilschutzzentrums von Schleitheim näher ans Zentrum nach Protesten aus den Landgemeinden vorübergehend gestoppt.

Auf dem Land mehrt sich das Unbehagen. Im Klartext: Der Kanton bündelt vermehrt Aufgaben, und dies meist im Zen­trum – etwa durch Zusammenlegung der Friedensrichterämter. Die Übermacht der Kernagglomeration gegenüber den ländlichen und peripheren Gemeinden zeigt sich aber immer auch wieder bei Volksabstimmungen. Zuletzt beim Volksentscheid über die Konzentration aller Standorte des Stras­senverkehrsamtes in der Stadt. Über die Hälfte der Gemeinden lehnte dies glattweg ab – die Aufhebung des kleinen Prüfstandortes in Beringen weckte abermals Ängste vor zu viel Zentralisierung.

Hans Rudolf Stamm, Gemeindepräsident von Schleitheim, fasst die Sorgen so zusammen: «In den letzten Jahren haben die Zen­trumsgemeinden mit dem Agglomerationsprogramm und durch die Wirtschaftsför­derung enorm profitiert. Die ­peripheren Gemeinden blieben auf der Strecke.»

«… dann sind wir vollends abgehängt.»

Hans Rudolf Stamm, Gemeindepräsident von Schleitheim

Aber nicht nur beim Verkehr oder bei der Gewerbe- und Wohnraumentwicklung fühlt man sich abgehängt und bevormundet. «Schon bei der Spitex mussten wir auf Geheiss des Kantons kapitulieren, obwohl unser kleinräumig angelegtes System gut funktioniert hat», sagt Stamm. Beim ­Zivilschutzzentrum habe der Kanton überhaupt nicht mit der Gemeinde zusammengearbeitet, sagt der Gemeindepräsident: «Da kam eines Tages eine Vorlage aus dem Baudepartement, das die Verlegung nach Beringen projektierte. Punkt.» Da müsse man sich wehren, und mittlerweile klappe das Zusammenstehen im Klettgau recht gut, so wie etwa bei der Buslinie 21.

Stamm sieht in der bevorstehenden Änderung des kantonalen Richtplans zum ­Kapitel Siedlung das nächste Ungemach kommen. «Die Entwicklung soll nun noch stärker auf die Zentrumsgemeinden ausgerichtet werden», meint Stamm. «Wie sollen wir uns da noch entwickeln? Wenn wir womöglich noch Bauland auszonen müssen zugunsten des ‹Speckgürtels›, dann sind wir vollends abgehängt.» Eine Abwärtsspirale drohe: Die Gemeinde werde immer abhängiger vom kantonalen Finanzausgleich und habe selbst immer weniger Spielraum, um etwa für Ansiedlungen beim Steuerfuss attraktiv zu bleiben.

Aus dem oberen Kantonsteil tönt es nicht anders. Josef Würms, Gemeindepräsident von Ramsen, hat in dieser Hinsicht auch eine Forderung parat. «Durch die neue Siedlungsentwicklung werden die Chancen für neuen Wohnraum und neues Gewerbe sehr ungleich zugunsten des Zentrums verteilt. Dann muss man den Gemeindeanteil an den reich sprudelnden Unternehmenssteuern im Kanton neu verteilen, und zwar gerecht auf alle Gemeinden gemäss Bevölkerungszahl.»

Einen anderen Aspekt streicht Philippe Brühlmann heraus, der Gemeindepräsident von Thayngen: «Es wird zusehends von oben herab entschieden und reguliert, und die Gemeinden haben nichts mehr zu sagen, sollen es aber bezahlen.» Die Einführung von Tagesstrukturen, die Kesb-Massnahmen und zuletzt der Entwurf für ein neues Polizeigesetz hätten diese Handschrift getragen. «Da werden wir hellhörig, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns querzulegen oder den Kanton zu korrigieren.» Obwohl seine Gemeinde zu den Gewinnern der Entwicklung gehöre, habe er grosses Verständnis für die peripheren Landgemeinden. «Es ist auch eine Kulturfrage. Wenn wir die Entwicklung in den Landgemeinden hindern und alles Wachstum in der Agglo stattfindet, dann verändert sich an beiden Orten die soziale Kultur.» Auf der Strecke blieben dann Milizkultur und die Überschaubarkeit der Verhältnisse vor Ort, so Brühlmann.

In der Verantwortung steht auch der Gemeindepräsidentenverband. «Wir stehen Partikularinteressen von Gemeinden und Verteilkämpfen neutral gegenüber, aber klar ist, dass die aktuelle Siedlungsentwicklung sowohl Gewinner als auch Verlierer produzieren wird», sagt der Verbands­präsident Hansruedi Schuler, der selbst Präsident der Boomgemeinde Beringen ist. Wichtig sei, Land- und Zentrumsgemeinden nicht gegeneinander auszuspielen. «Um einen Ausgleich zu schaffen, setzt sich der Verband stark bei der Aufgaben- und Finanzierungsentflechtung ein, das ist der richtige Weg», sagt Schuler (siehe Text unten).

Der Streit zwischen peripheren und Zen­trumsgemeinden wird weitergehen bei der Siedlungsentwicklung mit dem neuen Richtplan. Und konfliktreich werden auch die ­Debatten zwischen dem Kanton und den ­Gemeinden darüber verlaufen, welche Art der Entlastung den bedrängten Landgemeinden etwas bringt.

Aufgaben- und Finanzierungsentflechtung: Kann Neubeginn das Problem entschärfen?

Es gibt Aufgaben, die allein eine Gemeinde tragen und finanzieren muss. Zum Beispiel die Entrichtung von Sozialhilfe. Und es gibt Aufgaben, für die allein der Kanton zuständig ist. Etwa die Gerichte. Daneben gibt es aber eine Vielzahl von Aufgaben, bei denen die Finanzierung im Verbund von Gemeinden und Kanton getragen wird – so bei der Volksschule, im Gesundheitswesen oder bei der öffentlichen Sicherheit – oder für die sich Gemeinden in Zweckverbünden zusammenschliessen.

Um diese Verflechtungen von Grund auf zu analysieren und einer Neu­beurteilung zu unterziehen, hat das Kantonsparlament 2016 die Regierung beauftragt, die Zuständigkeiten zwischen dem Kanton und den Gemeinden möglichst klar abzugrenzen und die Aufgaben sowie deren Finanzierung eindeutig zuzuweisen.

Unter der Leitung des Finanzdepartements werden zurzeit mit Gemeindevertretern und den jeweiligen Ver­waltungen die heute bestehenden ­Verbundaufgaben zusammengetragen und die bestehende Aufgaben- und ­Finanzierungsteilung analysiert, um eine Empfehlung für mögliche Entflechtungen auszuarbeiten und zuhanden des Kantonsparlaments abzugeben. Die Zuständigkeiten sollen, wo nötig, optimiert, entflochten und neu normiert werden. Darüber hinaus solle das Verständnis der Aufgabenerfüllung zwischen dem Kanton und den Gemeinden gestärkt werden, schreibt das Finanzdepartement auf Anfrage.

Ob Entflechtungen vorgenommen werden, die eine Korrektur des Finanzausgleichs notwendig machen, wird erst geprüft, wenn die Resultate vorliegen. Dennoch erwächst dem Vorhaben im Licht der aktuellen Diskussionen eine eminente Bedeutung. So könnte etwa die Polizei ganz Aufgabe des ­Kantons werden, und die Gemeinden könnten ganz entlastet werden. Der Gemeindepräsidentenverband Schaffhausen will sich laut seinem Präsidenten jedenfalls für die Interessen kleiner und peripherer Landgemeinden einsetzen. (lbb)

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