Schaffhausen streikte ruhig und ohne Aufruhr

Der Landesstreik oder Generalstreik von 1918 wurde in Schaffhausen vor allem von den Arbeitern in der Maschinenindustrie sowie den Strassen- und Eisenbahnern befolgt. Ein Rückblick.
Die Ausstellung
Die Ausstellung «Landesstreik 1918» im Museum im Zeughaus Schaffhausen wird am Samstag, 30. Juni, um 10 Uhr eröffnet. Die Eröffnungsrede hält Bundesrat Johann Schneider-Ammann.
von Karl Hotz
Er ist legendär und prägte die Schweizer Politik bis gegen Ende der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts: der Generalstreik vom 12. bis 14. November 1918. Betroffen davon war mit seiner starken Maschinen- und Metallindustrie natürlich auch Schaffhausen. Dank besonnenem Handeln des Aktionskomitees, der Stadt- und der Kantonsregierung, des Militärs und der betroffenen Firmen kam es dabei, nicht wie an anderen Orten in der Schweiz, kaum zu Zwischenfällen, zu Ausschreitungen gar nicht. Zwei Bücher* geben einen guten Überblick über die Rahmenbedingungen und das Geschehen selbst.
Umsichtig und mässigend
Einige äussere Umstände hatten besonderen Einfluss auf den Streik in Schaffhausen. Zu nennen ist einmal Hermann Schlatter, der erste sozialistische Stadtpräsident, der am 2. Dezember 1917 gewählt wurde. Wiewohl ein Sympathisant der russischen Revolution von 1917, wirkte er in den Streiktagen umsichtig und mässigend. Seine Wahl wurde beeinflusst von der wirtschaftlichen Lage. Parallel zur Not weiter Bevölkerungskreise (vgl. Artikel unten) erlebte ein Teil der Industrie, vor allem Georg Fischer (GF) und SIG, durch grosse Lieferungen an beide Kriegsparteien einen eigentlichen Boom. GF beispielsweise verdoppelte die Zahl ihrer Arbeiter. Arbeitslosigkeit in Schaffhausen und Neuhausen gab es darum kaum. Diese zugewanderten Arbeiter, soweit sie das Stimmrecht besassen, wählten meist Schlatter. Und schliesslich ist der sogenannte «Rote Sonntag» vom 3. Juni 1916 zu erwähnen, an dem die Jugendorganisationen der SP – sie gehörten klar zum revolutionären Flügel der Partei – zu Demonstrationen gegen den Krieg und die prekäre soziale Lage aufriefen. Militär und Bundesrat reagierten wie später beim Generalstreik und liessen vorsorglich Truppen aufmarschieren. Das auch in unserer Region, obwohl der Regierungsrat nach Bern gemeldet hatte, das sei unnötig. Die SP reagierte empört. «Beleidigung eines grossen Teils unseres Volkes» hiess es in einer Resolution der Schaffhauser SP. Schlatter sprach von einer «Staatsgefährlichkeit allerersten Ranges».
Soziale Lage war desolat
Die soziale Lage in Schaffhausen war wie überall desolat. Die Stadt kaufte zwar schon früh Vieh, Mehl, Kartoffeln und andere Lebensmittel. Das verbesserte zwar die Grundversorgung, änderte aber nichts daran, dass sich die Lebensmittel in der Region in den vier Kriegsjahren um 158 Prozent verteuerten. Auch die Mieten stiegen um etwa einen Viertel. Dass in der Schaffhauser Industrie die Löhne um bis zu 50 Prozent stiegen, änderte wenig, linderte aber die prekäre Situation immerhin. Die vom Bundesrat erst 1917 eingeführte Rationierung änderte an diesem Umständen wenig. Anders gesagt: Die Arbeiter und zunehmend auch viele Angestellte und Beamte litten und hatten, das mit ein Grund für immer mehr Streiks und andere Proteste, je länger, desto weniger zu verlieren.
«Kampf für unsere Rechte»
All diese hier sehr summarisch geschilderten Punkte führten zu steigenden Spannungen. Arbeitersekretär Heinrich Schöttli warnte 1917 den Regierungsrat in einer Eingabe: «Die Empörung wird sich in Gewalt Luft verschaffen.» Die Regierung zog Erkundigungen ein und erhielt unter anderem von GF den Hinweis: «Auch die bodenständige und ruhige Arbeiterschaft beginnt mit Revolte und Revolution zu spielen.»
Stadtpräsident Hermann Schlatter (SP) hatte die Devise: Kein Öl ins Feuer giessen. BILD AUS «SCHAFFHAUSEN UND DER LANDESSTREIK VON 1918».
Im Februar 1918 wurde dann das bekannte Oltener Komitee gegründet, das eine Liste von 15 Forderungen an den Bundesrat erstellte. «Endlich entschlossener Kampf für unser Recht» stellte die Schaffhauser Arbeiter-Union dazu fest. Die Schaffhauser Typografen und Strassenbahner waren in einer Umfrage des Komitees für einen Generalstreik. Im Oktober bildete sich unter der Leitung von Schöttli, dem Metallarbeitersekretär Heinrich Weber und dem Strassenbahner Adolf Sauter ein lokales Komitee – ein Schritt, der übrigens nicht öffentlich gemacht wurde.
Info: Der Streik
Die Situation verschärfte sich zunehmend. Ungeschickte Aktionen wie etwa die Erhöhung des Milchpreises von 30 auf 40 Rappen durch den Bundesrat trugen das Ihre dazu bei. Die Situation in Deutschland, wo Teile der Truppen und die Arbeiter revoltierten, was letztlich zur Ab- dankung des Kaisers und zum Waffen-stillstand führte, hatte ebenfalls Auswirkungen auf die Schweiz. Das Oltener Ko-mitee, auch unter Druck der besonders aktiven Zürcher Arbeiter, drohte unverhohlener mit einem Generalstreik. Als eine Art Hauptprobe wurde beschlossen, am Samstag, 9. November, die Arbeit niederzulegen. Geschätzte 10 000 Arbeiter befolgten in der Region den Aufruf und legten die Arbeit nieder. Der Regierungsrat bat vorsorglich um Truppenunterstützung. Ein Bataillon wurde daraufhin in die Nähe der Stadt verlegt, eine Reserve bei Andelfingen postiert. Die Streikaktion selbst verlief völlig ruhig.
Mangel und Not: Bis weit ins Bürgertum zu spüren
Der Erste Weltkrieg war für weite Teile der Schweizer Bevölkerung eine Zeit der Entbehrungen. Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen rechnete niemand mit einem so grossen Krieg und vor allem nicht mit einem so langen. Die Schweiz hatte praktisch keine Vorräte. Zudem ging es sehr lange, bis der Bundesrat, dem schon in den ersten Kriegstagen weitgehende Vollmachten eingeräumt wurde, auf diese Mangelsituation reagierte. Erst 1917 wurde schrittweise eine Rationierung eingeführt. Das ist aus heutiger Sicht umso weniger verständlich, als die Preise für die Grundversorgung rasch stiegen: Die Detailshandelspreise waren 1918 130 Prozent höher als 1914! Zudem brach der Wohnungsbau zusammen, und die Mieten stiegen darum stark. Das führte zu existenziellen Ängsten und Nöten, zumal die Soldaten, die durchschnittlich 500 Tage Dienst leisteten, meist keinerlei Lohnausfall erhielten. Ein Sozialsystem existierte nur rudimentär. Suppenküchen und Soldatenstuben wurden fast nur von gemeinnützigen Organisationen betrieben.
Zudem wurde die Schweizer Wirtschaft durch den Krieg massiv verändert. Der zuvor immer wichtiger gewordene Tourismus brach schlagartig ein. Die Textilindustrie, zuvor der wichtigste Wirtschaftszweig, verlor fast alle Kunden und erholte sich nie mehr. Auf der anderen Seite expandierte die Metall- und Maschinenindustrie, die beide Kriegsparteien belieferte. Auch die Chemie profitierte massiv vom Krieg. Den Firmen kam zudem entgegen, dass der Bundesrat schon in den ersten Kriegstagen wichtige Passagen des Fabrikgesetzes zuungunsten der Arbeitnehmer aufhob. Der Aufschwung des Finanzplatzes Schweiz nahm seinen Anfang ebenfalls in den Kriegsjahren.
Kein Wunder, dass die sozialen Spannungen aufbrachen und sich zunehmend verschärften. Hinzu kam, dass ein Teil der Firmen we- gen ausfallender Rohstofflieferungen und Arbeitskräftemangel, verursacht durch die Rückkehr vieler Ausländer – zu Beginn des Krieges war der Anteil der Fremdarbeiter so hoch wie in den Sechzigerjahren! – und den Ausfall der mobilisierten Schweizer, Kurzarbeit verfügten oder den Betrieb zeitweilig ganz einstellten. Wegen des Arbeitskräftemangels und der massiven Lieferungen an die Krieg führenden Mächte stiegen in vielen Branchen zwar die Nettolöhne, das kompensierte die Teuerung aber bei Weitem nicht: Bis zum Kriegsende fielen die Reallöhne um 25 bis 30 Prozent. Ein Sechstel der Bevölkerung bezog beim Kriegsende Notstandshilfe, die aber mit heutigen Sozial-leistungen nicht verglichen werden kann. Kein Wunder, dass es ab etwa 1916 zunehmend Streiks und Demonstrationen gab. (khz)