Nicht so richtig fassbar

Maria Gerhard | 
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«Meine Umwelt hat mich nicht verstanden. Aber ich hab mich auch kaum selbst noch verstanden», sagt eine der Frauen der Schaffhauser Initiative Psychatrieerfahrener. Bild: Key

Die Mitglieder der SHiP (Schaffhauser initiative Psychiatrieerfahrene) wollen mit ihren über das Jahr verteilten Aktionen der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen entgegenwirken.

Als sie noch Schülerin war, lief Sonja Rochat* einmal in der Woche mit ihrer Klasse zum Schwimmunterricht zur KSS. Als die Mädchen und Buben an dem hohen Zaun der Breitenau Schaffhausen vorbeiliefen, der die Breitenaustrasse vom Park der psychiatrischen Einrichtung trennte, mahnte der Lehrer die Kinder jedes Mal eindringlich: «Beeilt euch. Hinter dem Zaun leben ganz gefährliche und kranke Menschen.» Sonja Rochat kann sich noch gut daran erinnern: «Wir hatten damals alle Schiss.» Das war vor über 40 Jahren. Heute kann sie darüber lachen. Den Zaun gibt es nicht mehr, der Park ist für jeden frei begehbar. Trotzdem denkt Rochat immer wieder einmal an diesen Lehrer: «Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass ich später in dem Park gesessen habe, als Patientin?»

Früher trug man Rasseln

Rochat ist Mitglied der Gruppe Schaffhauser initiative Psychiatrieerfahrene (SHiP), einst der Patientenrat der Brei­tenau. Es sind derzeit hauptsächlich Frauen, die sich jeden zweiten Donnerstag im Monat treffen und mit ihren Aktivitäten – vom Osterbasteln bis zum Gesundheitsparcours auf dem Fronwagplatz – gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen einsetzen. Zwar sind die Zeiten lange vorbei, in denen Patienten Rasseln tragen mussten, damit man sie von Weitem hören und rechtzeitig die Strassenseite wechseln konnte. Aber die Angst vor diesen für viele unheimlichen Krankheiten bleibt bestehen. Da sind sich die Frauen sicher. An diesem Abend sitzen sieben von ihnen an einem der Tische im Pavillon der Steigkirche. Jede hat ihre Agenda neben sich liegen. Die Vorsitzende geht die Traktandenliste durch. Kurzum, es ist eine normale Vereinssitzung, bis auf – Befindlichkeitsrunde. Arnold Frauenfelder, der früher Psychologischer Leiter in der Breitenau war und die Initiative als Fachperson betreut, fragt in die Runde: «Wie geht es euch?» Rochat, sagt, dass sie sich sehr wohl fühle. Einzig um ihre Mutter, der es momentan nicht so gut gehe, sorge sie sich.

Rochat ist sehr behütet aufgewachsen. Vielleicht deshalb war sie gezwungen, eine Zeit lang eine Art Doppelleben zu führen: «Zu Hause war ich das liebe Mädchen, und nachts, im Ausgang, habe ich Männer aufgerissen.» Sie habe in einem Spannungsfeld gelebt: auf der einen Seite das schlechte Gewissen gegenüber den Eltern, auf der anderen Seite die eigenen Bedürfnisse und Wünsche.

Nach einem Sprachaufenthalt im Ausland, da war sie fast 20 Jahre alt, sei es passiert: «Ich habe mich von der Aussenwelt total zurückgezogen, hatte immer wieder Wahnvorstellungen. Ich habe in die Gesichter von Menschen geschaut und sah nur Fratzen.» Trotzdem beginnt Rochat eine Ausbildung, damit ist sie aber schnell überfordert. Mit 30 Jahren rutscht sie in eine tiefe Psychose. Ihre Umwelt habe sie nicht mehr verstanden. Sie habe sich aber auch kaum noch selbst verstanden. Als sie schliesslich mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen, geht sie freiwillig ins Psychiatriezentrum. Ein Jahr lang war sie dort. Stein für Stein wurde sie wieder aufgebaut, wie sie sagt. Heute hat Rochat einen regen Freundeskreis und arbeitet Teilzeit.

Weiter geht es in der Runde. Gegenüber sitzt Miriam Schmid*. Sie hat derzeit wieder Schlafstörungen. Mit einer anderen Frau aus der Runde, die ebenfalls nicht einschlafen kann, tauscht sie noch um drei Uhr Whats-App-Nachrichten aus. «Das tut gut, dann fühlt man sich nicht so allein», sagt Schmid. Die frühen Morgenstunden nutzt sie für ihre Hobbys: Während es draussen noch dunkel ist, sägt sie mit einer Laubsäge aus Sperrholz Figuren aus. Zuletzt hat sie so ein buntes Schlüsselboard gemacht.

Ein Haufen Scherben

Auch Schmid hat sich vor acht Jahren freiwillig im Psychiatriezentrum Breitenau angemeldet. Die Diagnose bei ihr: Posttraumatische Belastungsstörung und Borderline-Syndrom. Wenn sie etwas Unangenehmes erzählt, fährt sie sich immer wieder mit der rechten Hand durch das dicke Haar. Die ersten Jahre ihres Lebens wuchs sie bei ihrer Tante auf. «Ich dachte immer, sie sei meine Mutter», sagt Schmid. Bis sie mit fünf zu ihrer leiblichen Mutter kam. «Sie hat sich kaum um mich gekümmert, sie wollte mich einfach nicht», sagt sie. Und da gab es den Freund ihrer Mutter. Er habe sie das erste Mal sexuell missbraucht, da war sie acht Jahre alt. So ging es weiter, bis sie 14 Jahre alt war.

Später heiratet Schmid, da ist sie Anfang zwanzig. Doch auch hier findet sie kein Glück. Ihr Mann schlägt sie, es kommt ebenfalls zu sexuellen Übergriffen. Sie erduldet es viele Jahre, bis das Sozialamt ihr droht, die Kinder wegzunehmen. Endlich kann sie sich lösen. Das Gefüge, das ihr bei all den leidvollen Erfahrungen trotzdem einen Halt gegeben hat, bricht zusammen. Sie steht vor einem Haufen Scherben. «Ich stand immer wieder auf den Bahngleisen», sagt sie. Doch sie hat weitergelebt, überlebt.

Und heute sitzt sie in diesem Kreis und strahlt eine Selbstsicherheit und Kraft aus, die man nicht vermutet hätte. Das hat vielleicht auch mit der Gemeinschaft zu tun. «Ich kann hier so sein, wie ich bin», sagt Schmid, «wenn es mir schlecht geht, wird das einfach akzeptiert.» Ausserhalb dieses Kreises ist das nicht immer so. Ihr einstiger Chef hat es so formuliert: «Einmal gaga, immer gaga!» Zwar habe er sich dafür entschuldigt, so Schmid, aber letztlich habe er nur gesagt, was er dachte.

Es wird als Versagen angesehen

Arnold Frauenfelder kennt das von seiner Arbeit nur zu gut: «Psychisch kranke Menschen werden auch heute noch oft auf ihr Krank-Sein reduziert.» Dabei habe jeder von ihnen auch noch eine gesunde Seite. Dann tritt etwa ein Mensch hervor, der lacht, der Glück empfindet. «Aber wir haben mittlerweile eine sehr leistungsorientierte Gesellschaft», sagt Frauenfelder, «da gilt es als Versagen, wenn jemand nicht den ganzen Tag arbeiten, vorwärtsstreben und sich selbst verwirklichen kann.» Und eine der Damen sagt: «Ausserdem sind diese Krankheiten nicht so richtig fassbar. Man liegt ja schliesslich nicht mit Masern im Bett.» Das würde Angst erzeugen, vielleicht auch, weil man sich selbst nicht ganz davor gefeit sehe. Immerhin, in Europa haben vier von zehn Menschen mindestens einmal im Leben psychische Probleme.

Oft haben Betroffene aber auch noch mit etwas anderem zu kämpfen, mit Selbststigmatisierung. Miriam Schmid sagt: «Man traut sich plötzlich nichts mehr zu, hält sich selbst für komisch.» Und dann ziehe man sich schnell zurück. Es erfordere also letztlich auf beiden Seiten Mut, aufeinander zuzugehen. Die Frauen hoffen, dass sie durch ihre Aktivitäten Menschen für das Thema interessieren können und vielleicht auch neue Mitglieder finden, die zu der im Vergleich zu früher recht geschrumpften Gruppe hinzustossen. Das Motto für den Gesundheitsparcours am 25. August haben sie jedenfalls schon einmal voller Tatkraft festgelegt: «Psychisch Kranke sind vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft!»

* Namen geändert

Weitere Informationen zu SHiP und generell zum Thema finden sich auf der Homepage www.ship-sh.ch.

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