125 Jahre Breitenau: Der Wandel von der Irrenanstalt zum Psychiatriezentrum

Alfred Wüger | 
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Zur Kleidung des Personals gehörte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts auch in der Breitenau der am Gürtel getragene Schlüsselbund. Bild: Privatarchiv Schaffhausen

Der Historische Verein und die Spitäler Schaffhausen legen anlässlich des Jubiläums ein Kompendium zur Bau- und Medizingeschichte vor.

«Am 1. Juli 1891 wurde in Schaffhausen, auf der damals noch weitgehend unbebauten Breite, die erste Gesundheitsinstitution des Kantons Schaffhausen eröffnet: die ‹Kantonale Irrenanstalt›, die wenig später den heute noch gebräuchlichen Namen ‹Breitenau› erhielt.» Dies schreibt Spitaldirektor Hanspeter Meister, im Geleitwort zum neuen Buch «125 Jahre Psychiatrische Klinik Breitenau Schaffhausen, 1861–2016».

Das Werk ist ein gelungenes Kompendium zur Baugeschichte eines markanten Gebäudes, das errichtet wurde in einer Zeit des kulturellen und geistigen Aufbruchs in Europa und in der Schweiz.

Von Anfang an auf der Höhe der Zeit

Dass es überhaupt zum Bau einer, wie es damals hiess, «Irrenanstalt» in Schaffhausen kam, hat seinen Grund darin, dass im 19. Jahrhundert die moderne Psychiatrie ihren Anfang nahm. 1808 taucht der Begriff «Psychiatrie» auf. Erstmals wird er in Halle verwendet, vom deutschen Arzt Johann Christian Reil. 1828 wird in Schaffhausen der Vorschlag laut, einen Irrenhausfonds zu äufnen, und ab 1842 begannen dann die Diskussionen über den Bau eines Schaffhauser Irrenhauses und den optimalen Standort. Diese Debatten dauerten Jahrzehnte.

«Eine Kranke entwich bei ziemlich kühlem Herbstwetter und wurde erst nach zwei Tagen im Walde gefunden.»

Wurde 1891 die Breitenau als «Kantonale Irrenanstalt» für unheilbar Geisteskranke gegründet, so hiess sie ab 1930 «Kantonale Heil- und Pflegeanstalt» und ab 1965 dann «Kantonale Psychiatrische Klinik». 1991 schliesslich wurde die Bezeichnung in die heutige Form «Kantonales Psychiatriezentrum» geändert. Diese Namensgeschichte spiegelt die Entwicklung der medizinischen und geistigen Betreuung der Patientiennen und Patienten – weg von der Isolation, hin zu therapeutischen Ansätzen.

Den medizinischen Teil der Geschichte der Breitenau im Buch handelt Arthur Uehlinger – von 1968 bis 1993 Chefarzt der Inneren Medizin am Kantonsspital Schaffhausen – ab. Die Breitenau war für den Kanton Schaffhausen, der bei ihrer Eröffnung 38 000 Einwohner hatte, eine grosse Sache. Vorbilder waren bereits bestehende Institutionen wie die Waldau in Bern oder das Burghölzli in Zürich. Der erste Direktor der Klinik Breitenau, August Müller-Joos, wirkte bis 1904, als er, lediglich 45-jährig, an einem Hirnschlag im Amt verstarb.

Die damaligen Behandlungsmethoden in der Breitenau waren zwar auf der Höhe der Zeit, aber im Vergleich zu heute doch beschränkt. Die Patienten konnten kaum je wieder entlassen werden. Von neun Uhr abends bis um sechs Uhr morgens waren die Tore der Anstalt geschlossen. Immer wieder gelang Patientien dennoch die Flucht: «Eine Kranke entwich bei ziemlich kühlem Herbstwetter ohne Schuhe und wurde erst nach zwei Tagen im Walde aufgefunden.» Schaden habe sie dabei keinen genommen. «Indessen verursachen solche Eskapaden oftmals viel Kosten und mancherlei Unmut für alle Beteiligten.» Dieses Zitat stammt aus dem Verwaltungsbericht aus dem Jahre 1896. Im Staatsarchiv lagern rund 1000 Krankengeschichten aus der Zeit von August Müller.

Kunst in der Breitenau

Die medizinische Entwicklung machte einen Sprung nach vorn mit Hans Bertschinger, der ein früher Psychoanalytiker und von 1904 bis 1935 Direktor der Klinik Breitenau war. Wie Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung gehörte er zu den ersten «Irren­ärzten», die die Ideen von Sigmund Freud aufnahmen. «Jung sieht in Bertschinger einen Mitstreiter der psychoanalytischen Bewegung», schreibt Jörg Püschel, Breitenau-Chefarzt von 2008 bis 2016, in seinem Beitrag. Mit Emma Fürst kommt 1908 die erste Ärztin, ebenfalls geprägt von C. G. Jung, in die Breitenau.

Aus der Zeit von Hans Bertschinger stammen «306 Malereien, Zeichenhefte, Stickerein und Collagen von 26 Patienten, darunter auch grössere Werkgruppen und Ölmalereien». Sie befinden sich heute im Staatsarchiv und werfen, so die Kunsthistorikerin Katrin Luchsinger in ihrem Beitrag, «ein Licht auf die Vielfalt künstlerischer Betätigung in der Klinik». Hans Bertschinger veröffentlichte zum Teil Zeichnungen, C. G. Jung kommentierte sie später, und so wurde Schaffhausen Teil des damaligen Diskurses um «die Kunst der Avantgarde und ihre Quellen».

«Wo findet die Freiheit eines Menschen seine Grenze? Wann muss man ihn vor sich selber und ­andere vor ihm schützen?»

Schattenseiten der Psychiatrie werden in der neuen Publikation nicht verschwiegen. Über den «Zwang in der Klinik Breitenau» und damit über die «Achillesverse der klinischen Psychiatrie» schreibt die Historikerin Marietta Meier. Sie bezieht sich auf die Dissertation aus dem Jahre 1994 von Julia Hänny-Krell zum Thema. Laut Meier ist dies die einzige wissenschaftliche Studie zur Schaffhauser Psychiatrie. Im 19. Jahrhundert widersprachen die Zustände in den psychiatrischen Kliniken den bürgerlichen Menschenrechts- und Freiheitsvorstellungen. Zwar wurde die Zwangsjacke im Jahre 1892 in der Breitenau nicht verwendet, aber fünf Kranke wurden mit der Sonde ernährt, weil sie die Nahrungsaufnahme verweigerten. Die Frage in diesem Themenfeld lautet: «Wo findet die Freiheit eines Menschen seine Grenze? Wann muss man ihn vor sich selber und andere vor ihm schützen?» Diese Fragen werden aktuell bleiben, und deshalb ist das Buch über «125 Jahre Psychiatrische Klinik Breitenau Schaffhausen» ein wichtiges Werk, das die ganze Gesellschaft und nicht nur einen Teil von ihr betrifft.

«Das Ziel der Betreuung psychisch Kranker ist heute jedenfalls nicht mehr die Hospitalisierung, sondern die Wiederherstellung der Gesundheit der Patienten.» So heisst es im Sitzungsprotokoll der Aufsichtskommission Breitenau vom 15. August 1984.

Freude über das gelungene Jubiläumsbuch sowie spannende und amüsante Reminiszenzen aus der Psychiatriegeschichte

Er sei erschlagen, so eröffnete Spitaldirektor Hanspeter Meister sein Referat an einer Veranstaltung von gestern Abend im Psychiatriezentrum Breiten­au, an der das Buch zum 125-Jahr-Jubiläum vorgestellt wurde. Der Grund dafür war die Anzahl der Gäste, die so gross war, dass mindestens fünfmal zusätzliche Stühle herbeigeschafft werden mussten.

Meister dankte allen Beteiligten, die zum Gelingen des Werkes beigetragen hätten: zehn Autorinnen und Autoren und vor allem Jörg Püschel, bis letztes Jahr Chefarzt der Breitenau, der als eigentlicher Vater des Buches, Ideengeber und Koordinator gewirkt habe. Dankbar sei er auch dem Historischen Verein, der die Herausgabe des Buches übernommen habe. Und schliesslich würdigte er die Beiträge der Gemeinnützigen Gesellschaft, der Jubiläumsstiftung von Georg Fischer und des Lotteriefonds, deren Spenden die Finanzierung des Buches erst ermöglicht hätten. Er habe im Buch erst herumschnuppern können, so Meister. Er sei aber überzeugt, dass auch Nichtpsychiater, -ärzte und -historiker daran viel Freue haben könnten.

Für den Historischen Verein würdigte René Specht das Buch. Auch er dankte Püschel. Er sei es gewesen, der 31 Laufmeter Akten der Breitenau 2015 dem Staatsarchiv übergeben habe. Diese nun erschlossenen Bestände hätten die Arbeiten aller Beteiligten wesentlich erleichtert. Das Buch habe eine thematische Spannweite und reiche von der Lokalgeschichte bis zu internationalen Themen. In einem kurzen Überblick streifte er zudem alle Autorinnen und Autoren, wobei er Arthur Ühlinger – ehemaliger Chefarzt und Verfasser der Spitalgeschichte – für sein einfühlsames Por­trät seines Grossvaters August Müller-Joos, des ersten Chefarztes und Direktors der Breitenau, ein besonderes Kränzchen wand.

Quer durch die Geschichte

Bernd Krämer, aktueller Chefarzt der Breitenau, bot nicht nur einen Querschnitt durch die Geschichte des Hauses, sondern auch durch die Geschichte der Psychiatrie. Vom Wegsperren oder gar dem Töten Betroffener bis zu modernen Therapien sei es ein langer Weg gewesen, so Krämer. Schon 1253 habe das Spital zum Heiligen Geist in Schaffhausen die Betreuung Irrer zu seinen Aufgaben gezählt. 1855 seien die Irren im Kanton erstmals gezählt worden, wobei es unter anderem Kategorien wie «völlig Verrückte» oder «Blöde und Stumpfsinnige» gegeben habe. In der gleichen Epoche sei aber auch die Idee erstmals formuliert worden, Irre seien heilbar. Die Epoche der grossen Erfindungen und der Erfindergeist hätten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Akzeptanz dieser Einsicht massiv gefördert. Dass die Idee der Breitenau in dieser Zeit entstanden und realisiert worden sei, komme nicht von ungefähr. Die Entwicklung gehe auch heute noch in rasantem Tempo weiter. Sie mache alle Beteiligten in der Breitenau neugierig und gebe ihnen grossen Elan, ist Krämer überzeugt. Karl Hotz

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