«Die Vorstadt 40 war das linke Zentrum»

Alfred Wüger | 
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Kundgebung am 1. Mai 1981 auf dem Fronwagplatz. Am Rednerpult: Daniel Leu. Er sass für die Progressiven Organisationen der Schweiz (Poch) im Einwohnerrat der Gemeinde Neuhausen. Bild: zvg

Vor 50 Jahren befand sich an der Vorstadt 40 in Schaffhausen die Hochburg der ­linken Szene. Auf drei Stockwerken lebten hier Mitglieder der Progressiven Organisationen der Schweiz (Poch), der Revolutionären Marxistischen Liga (RML) und der Jungsozialisten in drei Wohngemeinschaften unter einem Dach.

Schaffhausen in den späten 1960er-Jahren, in den 1970er-Jahren? Wer von denen, die später geboren wurden, kann sich diese Zeit vorstellen? Daniel Leu, Jahrgang 1951, promovierter Biochemiker, einer der Gründerväter des Kulturzentrums Kammgarn, lebte damals in der Poch-Wohngemeinschaft an der Vorstadt 40. «Dort war das Zentrum der Linken. Heute hat keiner mehr eine Ahnung, wie das war damals.» In Schaffhausen habe es zwar kein gesetzlich verankertes Konkubinatsverbot gegeben, aber nicht etwa weil die Stadt besonders fortschrittlich gewesen sei, sondern weil jeder des andern Polizist war. «Es kam gar niemandem in den Sinn, in wilder Ehe zusammenzuleben.» Und nun gleich drei Wohngemeinschaften in einem Haus! Kein Wunder, erregte das Anstoss.

Bürgerlicher Besitzer des Hauses

Die Liegenschaft gehörte damals der Moser-Metzg. Schwierigkeiten mit dem bürgerlichen Besitzer habe es aber nie gegeben, sagt Daniel Leu, denn: «Damals standen ganze Häuser in der Innenstadt leer, und der Besitzer war froh, dass die Liegenschaft nicht verlotterte. Wir haben nicht nur Miete gezahlt, sondern auch extrem viel renoviert. Wir hatten Leute, die auf dem Bau arbeiteten, Architekten usw. Es war, wie man heute sagen würde, eine Win-win-Situation.»

Im Zuge der Proteste in den USA gegen den Vietnamkrieg, die sich nach der Ermordung Martin Luther Kings im Jahre 1968 intensivierten, fand die Neue Linke in den Vereinigten Staaten wie in Europa einen starken Bezugspunkt und entwickelte sozialistische Vorstellungen mit internationalem Anspruch. Gleichzeitig elektrisierte die Musik der Beatles, der Rolling Stones, von Jimi Hendrix und den Doors die Massen.

Die Liegenschaft Vorstadt 40/42. Damals grosse Zimmer auf drei Etagen. Bild: B.+ E. Bührer

Daniel Leu wurde während seines Studiums an der ETH politisiert. Die Orientierungs-, Wachstums- und Strukturkrise zwischen 1968 und 1973 traf die ETH auf mehreren Ebenen. Neue Formen der Lehre und neue Inhalte des Studiums standen ebenso zur Debatte wie neue Reglemente und Gesetze. Paul Nizon schrieb 1970 «Diskurs in der Enge» und löste damit viele Debatten aus. «Es ging um Mitbestimmung. Das war ein fundamentales Anliegen gegen die Verkrustung, gegen den ganzen bürgerlichen Mief. Es ging um den Antiimperialismus», so Leu.

Die Poch war im Zuge der 1968er-Bewegungen als kommunistische Partei in Basel gegründet worden. In bürgerlichen Kreisen kursierte in jenen Jahren das Schlagwort «Mokau einfach!». Daniel Leu lacht. «Wir hatten ein distanziertes Verhältnis zu Moskau. Wir fühlten uns dem neutralen Block mit Jugoslawien und Kuba zugehörig, nahmen Kontakt auf mit kommunistischen Parteien Italiens und Spaniens.» Stichwort Gastarbeiter, Stichwort Max Frisch: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Das hatte er schon 1965 gesagt.

Daniel Leu war bei der Poch Schaffhausen eine der führenden Persönlichkeiten. Bild: zvg

Die Poch Schaffhausen organisierte im Mosergarten 1976 zum ersten Mal ein Fest, mit italienischem und spanischem Essen. «Das war damals eine Novität. Wir hatten einen Riesenzulauf aus der ganzen Bevölkerung.» Das ­Mosergartenfest wurde zu einer Tra­dition. «Politisch wollten wir den Ar­beitern mehr Rechte geben, wollten die gewerkschaftliche Mitbestimmung verbessern, es ging um Infrastrukturfragen in den Städten. Die Poch wurde sehr schnell bürgerlich und war links der SP im Parlamentarismus drin», sagt Daniel Leu und fügt lachend hinzu: «Dies sehr zum Missfallen der Trotzkisten von der RML, die uns dann Revisionisten schimpften.»

Damals Sympathisantin der RML und zwei Jahre lang auch Bewohnerin der Vorstadt 40 war Doris Schüepp. «Die damaligen Trotzkisten gehörten zur 4. Internationale», sagt sie, «und sie waren weiter von Moskau entfernt als etwa die Poch. Denn schliesslich war es ja Stalin, der Trotzki ermorden liess.» Die Leute an der Vorstadt 40 seien ­«engagiert und stürmisch» gewesen. «Wir wollten die Welt verändern und glaubten, dass wir die Welt verbessern könnten.»

Was der bürgerliche Argwohn für Formen annehmen konnte, schildert sie in einer Anekdote: «Irgendwann hatten wir den Eindruck, auf unserer AKW-Gegner-Adressliste figuriere jemand von der Polizei.» Darauf habe man einen Rundbrief an Vertrauenspersonen und den mutmasslichen Spitzel geschickt und darin die «Aktion Farbpalette» nachts um zwei in der Bahnhofsunterführung angekündigt.

«Nach dieser Nacht wussten wir, dass es einen Polizeispitzel gab in unseren Reihen, gingen an die Presse, und dort machte das dann Furore.»

Doris Schüepp, Leiterin der Fachstelle Bildung im Strafvollzug

Doris Schüepp: «Das wurde dann filmreif. Als wir dort waren, kamen Männer in Regenmänteln und Hüten, gingen vorbei und beobachteten, ob wir ­etwas unternehmen würden. Nach dieser Nacht wussten wir, dass es einen Spitzel gab, gingen an die Presse und dort machte das dann Furore.» So schrieben etwa die «Schaffhauser Nachrichten» am 17. Februar 1978: «Dr. Stauber, der Kommandant der Kantonspolizei, gab gestern unumwunden zu, dass die Polizei tatsächlich eine Beamtin zu den öffentlichen Veranstaltungen der Atom-Gegner gesandt hat und dass die Kantonspolizei auf die ‹Aktion Farbpalette› hereingefallen ist. Der verdutzte Beobachter fragt sich angesichts der farbigen Ereignisse: Wessen Methoden sind nun seltsamer, die der Kantonspolizei oder die der AKW-Gegner?»

Doris Schüepp

Auch habe man einmal einen Polizisten im Hausgang der Vorstadt 40 ­ertappt, sagt Doris Schüepp. «Er trug ­Zivilkleider über der Uniform», sagt Doris Schüepp, für die ihr politisches Engagement durchaus ernste Folgen hatte: Sie hatte es als Lehrerin anfangs schwer, eine Stelle zu finden, und es war über sie – Stichwort Fichenskandal in den späten 1980er-Jahren – eine Akte angelegt worden.

René Zurin, heute Sekretär beim VPOD, der Gewerkschaft im Service public, war damals ebenfalls Mitglied der RML. Er sagt: «Aus heutiger Sicht muten die spitzfindigen Diskussionen zwischen Poch und Trotzkisten fast archaisch an.»

René Zurin

Er lacht. «Man hatte eine ein wenig verschobene Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realitäten.»

«Hier und heute als Gewerkschaftssekretär kann ich ja nicht herumgehen und sagen, wir müssten den Kapitalismus aus den Angeln heben.»

René Zurin, Parteisekretär VPOD, damals Mitglied der RML

Je länger, je mehr habe man sich auf konkrete Forderungen konzentrieren müssen. «Hier und heute als Gewerkschaftssekretär kann ich ja nicht herumgehen und sagen, wir müssten den Kapitalismus aus den Angeln heben. Es müssen einfach die Arbeitsplätze gesichert werden, und die Löhne müssen stimmen, das ist das Wichtigste.»

 

Vorstadt 40 mit Bildungscharakter

Was auffällt, ist, dass viele der ­damaligen Linken nicht ins Lager des politischen Gegners übergelaufen sind. Doris Schüepp dazu: «Es war eine Überzeugung dahinter. Natürlich würde man heute nicht mehr jeden Satz gleich sagen wie damals, das ist klar, aber die Überzeugung war da, dass man es besser machen kann.» Es sei an der Vorstadt 40 «ein guter Boden gelegt» worden für später. «Diese Lebensphase hatte Bildungscharakter.»

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