Im Café Seewadel ist der Aufstand unvergessen
Vor 60 Jahren hielt die Welt den Atem an: Im Oktober 1956 erhoben sich die Ungarn gegen die sowjetisch-kommunistische Herrschaft. Der Volksaufstand wurde blutig niedergeschlagen. Hunderttausende Ungarn flohen in den Westen. Einige davon treffen sich jeden Mittwoch im Café Seewadel – und schwelgen nicht nur in traurigen Erinnerungen.
So verschieden sie auch sind, so unterschiedlich sie denken, neben dem bereits fortgeschrittenen Alter – sie alle haben die AHV-Schwelle längst überschritten – haben Miklós Kondás, János Sándor, Csaba Varga, Jóska Bonnert, Stefan Dancses, Fredi Marquetant, István Sebök, László Bardóczy, Imre Pukhely und Andras Lukácsi eine grosse, eine weltgeschichtliche, eine dramatische Gemeinsamkeit. Sie waren dabei beim Volksaufstand in Ungarn im Jahr 1956, sie gehören zu den Hunderttausenden von Flüchtlingen, die nach der Niederschlagung in den Westen flüchteten, und sie gehören zu jenen, die schliesslich in Schaffhausen landeten. «Ein Glück», sagt Stefan Dancses, und das ist (heute) eine einhellige Meinung, wobei Schaffhausen damals keineswegs zwingend ein Zielort gewesen ist. Bei einigen waren zum Beispiel die USA das Ziel. Dass das Schicksal (und die Behörden) anders entschieden, beurteilen die meisten positiv.
«Jeder hat seine Geschichte»Die Wege der ungarischen Flüchtlinge sind unterschiedlich, das Erlebnis von Aufstand und Flucht individuell. «Jeder hat seine besondere Geschichte – und jede ergäbe ausreichend Stoff für ein Buch», sagt Laszlo Bardóczy. Die zeitgeschichtlichen Bedingungen und Ursachen ihrer Flucht allerdings haben für alle Gültigkeit. Sie sind Teil des Ereignisses, das als «ungarischer Volksaufstand» in die Geschichtsschreibung eingegangen ist.
1956 entluden sich – nach vorangegangenen Aufständen in Polen – in Ungarn der Unwille über die nach dem Zweiten Weltkrieg installierte stalinistische Herrschaft und das unbezähmbare Bedürfnis nach Freiheit und Demokratie in Grossdemonstrationen. Am 23. Oktober 1956 erhielten sie den Charakter eines Volksaufstandes. Die Ungarn forderten eindringlich ein Mehrparteiensystem, freie Wahlen und vor allem auch den Abzug der sowjetischen Truppen. Die Machthaber reagierten mit Schüssen. In der bereits 1957 erschienenen Schrift «Aufstand der Freiheit» aus dem Zürcher Artemis-Verlag wird festgestellt: «Das ungarische Volk erhob sich in einem heldenhaften Aufstand gegen die russische Fremdherrschaft. Eine Nation sprengt den Gürtel des Satellitenreiches und erklärt den völligen Boykott der kommunistischen Theorien und Projekte.»
Der «Magyar-Szerdai-Kör», auf Deutsch etwa «Ungarischer Mittwochskreis/Ungarische Mittwochsrunde» (s. Kasten), trifft sich seit gut zehn Jahren im Café Seewadel. Seine Mitglieder äussern sich nur sehr zurückhaltend über ihre Erlebnisse während des ungarischen Aufstands. Die Zeit mag nicht alle Wunden geheilt haben, aber es gab auch so etwas wie eine Vernarbung. Das sei Vergangenheit, sagt einer der älteren Herren, das sei beiseitegelegt. Man mag vor allem nicht mit eigenen Erlebnissen auftrumpfen, schon gar nicht einen Heldenstatus in Anspruch nehmen und sich hervorheben wollen. Und: Längst haben sie alle das Schweizer Bürgerrecht, haben sich eingelebt in der Region, integriert – auch das schafft Distanz zu den Ereignissen von 1956.
Dramatische FluchtenGleichwohl. Würde man die Geschichten rekapitulieren, sie wären natürlich voller Dramatik. Wie bei jenem Herrn, der nicht möchte, dass sein Name in diesem Zusammenhang genannt wird. Am 18. Oktober 1956 hat er sich verlobt, am 23. Oktober zogen er und die Verlobte mit Zehntausenden anderen Demonstranten in Budapest zum von der Geheimpolizei umstellten Gebäude von Radio Budapest. Die Polizei schoss, Menschen starben. Schreckliche Szenen hätten sie erlebt, sagt der Mann. Die beiden konnten flüchten, entgingen dem Gemetzel und verliessen schliesslich mit vielen anderen Ungarn, um über Österreich zuerst nach Frauenfeld und danach nach Schaffhausen zu gelangen. Wenn die älteren Herrschaften heute Bilder der aktuellen Flüchtlingsströme sehen, können sie gar nicht anders, als sich eigene Bilder ihrer dramatischen Fluchten ins Gedächtnis zurückzurufen, obwohl sie in der Schweiz anders empfangen wurden: mit offenen Armen.
Denn der ungarische Volksaufstand ist gescheitert. Es gab Erfolge, es kam zu harten Kämpfen (mit der Bilanz 25 000 tote Ungarn und 7000 tote sowjetische Soldaten), es gab die ganze (westliche) Welt beeindruckenden Widerstand. Am 4. November 1956 begann eine verstärkte Rote Armee den Angriff auf Budapest, das sich eine Woche lang verteidigen konnte. In anderen Orten leisteten die Aufständischen sogar wochenlang Widerstand, in den Bergen an einzelnen Orten sogar bis ins Jahr 1957. Der Westen, beziehungsweise die Nato, griff in diesen heissen Wochen des Kalten Krieges nicht ein; sie fürchtete die direkte Konfrontation mit der Sowjetunion. Aber es war, symbolisiert im heldenhaften Kampf der Ungarn, natürlich ein Kampf der Systeme, die Konfrontation der Ideologien. Freiheit versus Diktatur, Demokratie gegen kommunistische Herrschaft. Der Westen geisselte die sowjetische Intervention, der Westen empörte sich in einer Art und Weise, die heute fast unvorstellbar erscheint. Und das apokalyptische Szenario («Budapest ist eine Hölle», titelten die «Schaffhauser Nachrichten» am 8. November 1956) bewirkte immerhin eine Welle der Hilfsbereitschaft.
Was nötig war. Nach der Niederschlagung der Freiheitskämpfe wurden Hunderte von Aufständischen hingerichtet, Zehntausende verschwanden in Gefängnissen, Hunderttausende Ungarn flohen in den Westen. Die Sowjets installierten das Kádár-Regime; Die Herren, die sich heute im Seewadel-Café treffen, verloren ihre Heimat. Und sie mussten sich eine zweite, eine neue Heimat suchen.
Schaffhausen halfSchaffhausen reagierte schnell. Nicht nur Hilfsorganisationen, Kirchen, Private, auch die «offizielle Politik». Der Grosse Stadtrat entschied schon an seiner Sitzung vom 17. November 1956, Flüchtlinge aufzunehmen. «Es gab in den vergangenen Wochen kaum jemand, der nicht zutiefst erschüttert worden ist», umschrieb der Freinsinnige Kantonsschulrektor Albert Wüscher die Reaktion in der Bevölkerung. Der Ratsberichterstatter verwies auf die besonders leidenschaftliche Anteilnahme der jüngeren Generation. Stadtpräsident Walter Bringolf versicherte, Wohnungen und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen zu wollen.
Ja, Schaffhausen breitete seine Arme weit aus, obwohl von einer «Willkommenskultur» damals nicht die Rede war. 1956/1957 allerdings hätte der Begriff, begünstigt von einem positiven konjunkturellen Umfeld, bestens gepasst – und die Herren von Magyar-Szerdai-Kör haben das nicht vergessen. László Bardóczy etwa, der Schaffhausen über Wien und Frauenfeld kommend am 14. Januar 1957 erreichte, wurde mit anderen Flüchtlingen im Schaffhauser «Kronenhof» empfangen. Sogar ein Stadtrat war dabei, ein Nachtessen gab es, einen Willkommensbatzen und – unglaublich – «schon am nächsten Tag konnte ich eine Arbeitsstelle antreten». So ist es allen ergangen. Schaffhausen hatte sich gründlich vorbereitet, alles stand bereit: Unterkunft, Arbeitsplatz, Wohlwollen. Doch Einschränkungen gab es auch, was die Herren heute mit Schmunzeln quittieren: «Damenbesuch auf dem Zimmer war streng verboten. Da waren sie unnachsichtig. Ob Herrenbesuche erlaubt waren, wissen wir allerdings nicht.»
Der herzliche Empfang wirkt nachDieser herzliche Empfang wirkt bis heute nach. Obwohl das Exil selbstverständlich nicht einfach war. Vor allem musste die Sprachbarriere überwunden, die andere Kultur verstanden, die Schweizer Eigenheiten verinnerlicht werden. Später sei auch Fremdenfeindlichkeit aufgeflammt, was aber auf die Ungarn selbst zurückzuführen sei, meinen die Herren. Beim Volksaufstand seien nämlich als Erste die freigelassenen Kriminellen geflüchtet, erklären sie, und die seien eben danach auch in der Schweiz kriminell gewesen – das habe kein gutes Licht auf die Flüchtlinge geworfen. Die Erläuterung offenbart, wie liebenswürdig die älteren Herrschaften bis heute geblieben sind. Man hätte das Phänomen auch anders beschreiben können.
Liebenswürdig sind sie allesamt, die Mitglieder der Seewadel-Runde, lebhaft, wunderbar sympathisch, ein wenig nostalgisch natürlich, aber ebenso der Gegenwart zugewandt. Sie sprechen viel über Fussball (nein, nicht über ungarischen; vielleicht, weil sie dessen glorreiche Zeiten noch selbst erlebt haben und sich lebhaft an die WM von 1954 in der Schweiz, als Ungarn erst im Finale von Deutschland besiegt worden ist, erinnern können). Sie lachen viel über Witze («Nein, keine unanständigen»), sie politisieren, auch über ungarische Politik, und haben völlig divergente Meinungen etwa zu Viktor Orbán, aber sie haben auch eine gewisse Distanz zur ersten Heimat entwickelt. Sie hätten mittlerweile ja auch zurückkehren können, der Eiserne Vorhang ist längst gefallen. Eine Reise ja, ein Umzug nein, auch weil in Ungarn meist gar keine Verwandten mehr übrig sind.
Natürlich sprechen sie an der Mittwochsrunde mit Genuss ungarisch – aber sie trinken Schaffhauser Wein. Sie begrüssen die übrigen Gäste im Café Seewadel ausnahmslos sehr herzlich – und sie werden sehr herzlich begrüsst. Sie schäkern mit Wirtin Käthi und Bedienerin Bea, sie geniessen die Runde, die allerdings immer kleiner wird, das Leben, die zweite Heimat. Sie scheinen ihren Frieden gefunden zu haben. Und das ist sehr gut so.
Magyar-Szerdai-Kör: Am Mittwoch in der CafeteriaEr ist eher zufällig und vor allem spontan entstanden, hat nun aber grosse Beständigkeit: Seit rund zehn Jahren treffen sich die Herren (nur Männer) des Ungarischen Mittwochkreises in der Cafeteria der Alterswohnungen im Seewadel. Ein offizieller Verein mit Statuten und Vorstand ist die lockere Runde nicht. Gleichwohl gibt es ungeschriebene Regeln: Bei Geburtstagen wird die Runde verköstigt, die Teilnahme an Beerdigungen von Mitgliedern ist selbstverständlich. Und Beerdigungen sind angesichts des fortgeschrittenen Alters der Mitglieder mittlerweile nicht selten: Seit der Gründung ist der Mittwochskreis um fast die Hälfte geschrumpft.