Die Rückkehr des Pjotr Ivanowitsch

Andreas Schiendorfer | 
Lesenswert
Noch keine Kommentare
Konzertpianistin Tamar Beraia zusammen mit Andreas Külling (l.) und Hans Ritzmann. Bild: Andreas Schiendorfer

Die Albert-Bächtold-Stiftung, neu von Andreas Külling präsidiert, stellte am Freitagabend in Wilchingen die Neuauflage des Mundartbestsellers «Pjotr Ivanowitsch» von Albert Bächtold vor.

Pjotr Ivanowitsch und sein Freund Michail Iljtsch besuchen in Moskau ein Konzert des russischen Komponisten Alexander Scriabin, kurz vor dessen Tod im April 1915. «I der Pause – s jung Volk hät klatsched und Scrijaaabin! Scrijaaaabin! Scrijaaaaabiiiin! grüeft, we wän er en Gott vom Himel wäär», liest Hans Ritzmann, der Wilchinger Poet und bis vor kurzem Präsident der Albert-Bächtold-Stiftung, aus dem Schlüsselroman von Albert Bächtold vor. Und während sich das russische Publikum fast in Ekstase kreischt, möchte Michail Iljtsch von seinem Schweizer Freund wissen, wie er sich denn fühle. «Ich? We de Esel vor eme neue Schüürtoor. Und bi nid emol ase sicher, öb würkli ich de Esel säi.» Der Russe fühlt sich nicht etwa beleidigt, sondern erklärt dem Esel vor dem neuen Scheunentor gutmütig: «D Ziitgenosse vom Bach händ au gsaat, da säi Riitschuelmusik, wa äär machi. Grossi Gäischter sind aliwil änere Ziit om hundert Johr voraa.»

Hätte man diese Zitate übersetzen müssen? Ganz sicher nicht dem Publikum im Storchensaal in Wilchingen, 60 Mundartexpertinnen und Mundartexperten, darunter Alfred Richli, Herausgeber des immer noch erhältlichen Standardwerks «Schaffhauser Mundartwörterbuch», und Ella Brühlmann, Präsidentin des Schaffhauser Mundartvereins. Sie alle ­waren der Einladung der Albert-Bächtold-Stiftung gefolgt, um sich über die Neuauflage des 1950 entstandenen Romans des vor 40 Jahren verstorbenen Schaffhauser Schriftstellers zu freuen.

Der Roman ist das sechste Werk Albert Bächtolds und beschreibt dessen Russlandaufenthalt von 1913 bis 1918, wie Andreas Külling, der neue Präsident der Stiftung, ausführte. Mitten im Ersten Weltkrieg wurde der junge Schaffhauser Augenzeuge der russischen Oktoberrevolution und erlebte selbst Dramatisches.

Die Musik war für Albert Bächtold, der eine wertvolle Geige besessen haben soll, stets ein wichtiger Lebensbegleiter.

Beim Verkauf von Zigarren auf dem Schwarzmarkt wurde er gefangen genommen und ins berüchtigte Ljubanskigefängnis gebracht, bis ihn seine Musikerfreunde befreien konnten.

Virtuose Pianistin

Die Musik war für Albert Bächtold, der eine wertvolle Geige besessen haben soll, stets ein wichtiger Lebensbegleiter. Und die Musik stand auch im Zentrum der stimmungsvollen Buchvernissage. Gleich zu Beginn spielte, ganz in Weiss, eine Göttin «vom Himmel» auf dem Konzertflügel. So also tönt Scriabin! Schwierig zu beschreiben, und eigentlich hörte man gar nicht recht hin, bestaunte vielmehr die Hände und Finger von Tamar Beraia, die auf den schwarzen und weissen Tasten ­hinauf- und hinunterturnten, in die Kreuz und in die Quer, bei Prokofjew noch virtuoser. Und zuletzt klatschte man begeistert Applaus, erleichtert vielleicht auch, dass sich die Gliedmassen alle wieder fein säuberlich entwirrt hatten – allerdings, man war ja nicht in Russland, auf die Skrijabin-Rufe verzichtend. Und später, beim Tischapéro, gestand jemand nach dem ersten Glas Wein freimütig, dass er, hätte er die ungewohnte Musik im Radio gehört, sich wohl auch wie ein Esel vor dem neuen Scheunentor gefühlt hätte.

Tamar Beraia, eine bekannte georgische Konzertpianistin, habe er vor zwei Jahren in Moskau kennengelernt, anlässlich der Vernissage einer russischen und ukrainischen Übersetzung des Piojtr Iwanowitsch (vgl. SN vom 23. Juni 2018/9. Januar 2019), berichtete Andreas Külling und erklärte, nun sei Albert Bächtold also wieder nach Hause zurückgekehrt, im doppelten Sinne sogar, denn gedruckt wurde die nunmehr vierte Auflage in Schleitheim, woher Bächtolds Familie – bekannt als Braateschniider – ursprünglich stammt.

Wie lebendig Albert Bächtolds Sprache nach wie vor ist, wie sehr sie einen in den 700-seitigen Roman* hineinzieht, bewies die voller ­Empathie und mit grosser Geste vorgetragene Lesung. Sass da wirklich Hans Ritzman oder vielleicht etwa doch Albert Bächtold, durch den «d Mundaart e Sprooch für Wältliteratur worde isch»?

*Bächtold, Arnold: «Pjtor Ivanowitsch», Hrsg. Albert-Bächtold- Stiftung, Schleitheim (stamm + co) 2021, 714 Seiten, Fr. 19.80.

Ist dieser Artikel lesenswert?

Ja
Nein

Kommentare (0)

Neuen Kommentar schreiben

Diese Funktion steht nur Abonnenten und registrierten Benutzern zur Verfügung.

Registrieren