Ein junger Kurator zeigt, was er kann
Einen frischen Blick auf das Thema Natur in der zeitgenössischen Kunst wirft der neue Kurator Gegenwartskunst am Museum Allerheiligen.
Aktuelle Ausstellung «Gebändigt?»
In 22 Exponaten aus den Sammlungsbeständen des städtischen Museums werden Naturdarstellungen von Gegenwartskünstlern gezeigt. Die Ausstellung im Wechselsaal ist vom 19. Dezember 2019 bis am 13. April 2020 zu sehen.
Mark Liebenberg (Text) Flavia Grossenbacher (Bild)
Ein ausgestopfter Vogel liegt seitlich umgekippt auf dem Boden. Über ihn machen sich zwei wunderschöne Schmetterlinge mit blauen Flügeln her. Oder sind es zwei Engel, welche die Seele des toten Vogels in den Himmel geleiten? «Idyll II» (2018) heisst die Skulptur der Thurgauer Künstlerbrüder Markus und Reto Huber, eine augenzwinkernde Nature-Morte-Szene, die in einer Vitrine aus buntem Plexiglas am Eingang zur letzten Ausstellung des Jahres im Museum zu Allerheiligen den Anfang macht.
Sein Anfang in Schaffhausen liegt schon ein paar Monate zurück: Julian Denzler hat im April als Kurator Gegenwartskunst die Nachfolge von Jennifer Burkard angetreten. Mit der neuen Schau aus Sammlungsbeständen des Museums gibt er jetzt seinen Einstand. «Ausgangspunkt waren natürlich einzelne Arbeiten, die ich in den Beständen gefunden habe und die ich unbedingt wieder einmal zeigen möchte», sagt Denzler.
Ideen entstehen am Mittagstisch
Beim Schmetterlings-Ensemble handelt es sich um einen ganz neuen Ankauf. «Die Arbeit mag ich so gern, weil sie sehr viel Freiraum lässt für eigene Aufladungen», sagt der Kurator. Zu einer kleinen visuellen Entdeckungsreise durch Naturdarstellungen von zeitgenössischen Kunstschaffenden, die meisten von ihnen mit regionalem Bezug, ist die Schau im Wechselsaal des Museums geworden. Daniela Keiser, Klodin Erb, Dieter Krieg, Ester Vonplon und andere mehr – ganz aus normalerweise im Depot versorgten zeitgenössischen Kunstwerken hat der junge Kurator eine kleine Schau zusammengestellt. «Gebändigt?» hat er sie getauft. Das Thema: Die Natur und die Kunst, wie bändigt der Mensch die Natur, wie macht er aus ihr Kunst? Was ist schon künstlich, was noch natürlich?
Beim Rundgang durch die entstehende Ausstellung ist Denzler nicht einer, der drauflos erklärt. Er wartet ab, wie die Betrachtenden reagieren, was sie fragen, kommentieren. Ein riesiges Tableau von Léopold Rabus – des «unheimlichen Heimatmalers» aus Neuchâtel – zeigt eine verstörende Szene aus Gesichtern, Gliedmassen, surrealen Vorgängen an einem winterlichen Waldbach. «Es ist unmöglich zu entziffern, was da vor sich geht, aber so ein Bild fährt mir voll in den Bauch», sagt Denzler.
Wie entstand die Idee, Naturdarstellungen in der Gegenwartskunst zum Leitmotiv seiner ersten Ausstellung zu machen? «Am Mittagstisch», sagt Denzler lachend. Im Austausch mit den Kollegen am Hause werde so manche Idee geboren. «Die Mehrspartigkeit des Museums zu Allerheiligen war auch einer der Gründe, wieso ich mich sofort beworben habe, als die Stelle ausgeschrieben wurde», sagt er. Das Interdisziplinäre verhindert, dass sich Gegenwartskunst in einen Elfenbeinturm zurückzieht. Ein reines «l’art-pour-l’art» interessiere ihn weniger, wie er sagt. Und das habe stark mit seiner Ausbildung zu tun.
Ein Bodenseekind
Geboren in Tettnang beim Bodensee, ist Denzler ein Kind der Region. «Meine Faszination für Kunst begann früh, bei Besuchen im Kunsthaus Bregenz», erzählt er. Von Beginn weg habe ihn nicht nur das Ausstellungsmachen interessiert, sondern vor allem auch der gesellschaftspolitische Aspekt von Kunst. «Für mich hat zeitgenössische Kunst immenses Potenzial, zu Zeitfragen Stellung zu beziehen.» Lange war er sich deshalb auch nicht sicher, ob er Politik oder Soziologie studieren will. «Da habe ich bald gemerkt, dass die Kunst viel grössere Freiheiten ermöglicht – auch für die, die sie analysieren. Das sagt mir mehr zu. Und es macht vor allem mehr Spass.»
Zum Kunststudium zog es ihn dann zunächst in den hohen Norden, nach Bremen. «Dies wegen des dortigen Studiengangs, der sehr offen, sehr diskursiv angelegt ist, mit flachen Hierarchien.» Ein Wechselbad dann der einjährige Studienaufenthalt in Bologna, «wo ein ausgesprochen professoraler Wind herrscht». 2015 schloss er den Master in kuratorischer Praxis und Kunstvermittlung an der Zürcher Hochschule der Künste ab, und nach Stationen in Zürich zog es ihn zum Kunstverein Friedrichshafen, wo er als der «jüngste Kunstkurator Deutschlands» gefeiert wurde. Im Bewerbungsverfahren für die Stelle in Schaffhausen hat er sich gegen 65 Bewerberinnen und Bewerber durchgesetzt. Heute lebt der 29-Jährige in Zürich und pendelt für seinen 60-Prozent-Job nach Schaffhausen.
Hier hat er nun ein spannendes Betätigungsfeld gefunden, wie er sagt. «Zeitgenössische Kunst ist für mich ein permanenter Aushandlungsprozess zwischen Kunstschaffenden, Ausstellungsmachern, Publikum und Kunstexperten. Was wird überdauern, was nicht? Ich finde es faszinierend, ein Teil davon zu sein.» Bereits im nächsten Jahr ist an Allerheiligen eine grössere Ausstellung geplant, die er kuratieren wird. In die Karten blicken lässt er sich zurzeit aber noch nicht. Unterdessen will er sich noch ein schärferes Bild von der lokalen, recht breit gefächerten Schaffhauser Kunstszene machen. «Ja, das gehört dazu, und da bemühe ich mich auch aktiv darum.»
«Zeitgenössische Kunst ist ein Aushandlungsprozess. Was wird überdauern, was nicht? Ich finde es faszinierend, ein Teil davon zu sein.»
Julian Denzler, Kurator Gegenwartskunst am Museum Allerheiligen
Die aus 22 Exponaten bestehende Ausstellung «Gebändigt?» ist nicht nur ein Spiel mit verschiedenen Formaten, Techniken, Medien und künstlerischen Handschriften. Dem Betrachtungsgegenstand – der Natur – entsprechend fehlen hier gänzlich abstrakte Werke, überwiegen figurative Zugänge. Denkt man an das Bild der Natur in der Kunst, dann denkt man automatisch an Landschaften, die sich in Malerei, Fotografie an der (oftmals fliessenden) Grenze zwischen Erfindung, Abbild und Reinterpretation des Vorgefundenen befinden.
Einen anderen Weg geht in der Ausstellung der Videokünstler Ernst Thoma. In «Landscape 10» (2018) schafft er eine imaginäre Landschaft, die sehr jener in der Region ähnelt. Und die sich laufend verändert im Wechsel zwischen Lichtintensität, Witterung und Topografie. Dieser hellfarbig leuchtende Monitor steht wiederum im krassen Kontrast zu einigen schwarz-weissen und grossformatigen Fotocollagen, wie etwa einem stark verfremdeten (und stark wirkenden) Matterhorn-Anblick mit Zugvögeln von Rémy Markowitsch.