SN-Dorfgezwitscher: «Ein Licht am düsteren Himmel»

Schaffhauser Nachrichten | 
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Thayngen hat eine grosse industrielle Vergangenheit. Davon übrig geblieben ist die Unilever. Historische Häuser verschwanden, eine Überbauung entstand - was bewegt die Leute dort?

von Dario Muffler und Alfred Wüger

Wann ist ein Dorf ein Dorf? Zum Beispiel dann, wenn es einen klar definierten Dorfplatz hat, einen grossen Brunnen, vielleicht Läden rundum und kleine Beizli, die belebt sind, kurz: ein pulsierendes Herz.

Thayngen, die Reiatmetropole, wie man gerne sagt, hat ein solch idyllisch umreiss­bares Zentrum nicht. Es hat im Grunde zwei Zentren. Das eine befindet sich oben auf dem Hügel bei der Kirche, beim «Sternen», beim Restaurant Gemeindehaus, bei der Polizei und der Gemeindeverwaltung – man merkt es der Aufzählung an: Das ist das historische Zentrum. Hier gibt es keine Läden. Hier kann man Thayngens Ruhepuls fühlen.

Die Einwohner und ihre Anliegen

Das zweite Zentrum liegt in der Ebene. Es trägt den Namen Kreuzplatz, obwohl es hier streng genommen keine Kreuzung mehr gibt, denn der Platz wird dominiert von einem Verkehrskreisel. Hier brummt es im Wortsinn. Am Morgen fährt Sattelschlepper um Sattelschlepper im Schritttempo durch den Kreisel und dann durch ein baumbestandenes Quartiersträsschen zur Unilever. Die grossen Trucks haben alle internationale Nummernschilder, ein Zeichen dafür, dass Thayngen nach wie vor eine wichtige Adresse ist im Wirtschaftsleben Europas. Unilever? Ja, im Vergleich zu Knorr mit der sympathischen Werbefigur, dem Knorrli, klingt das abstrakt. Wichtig aber ist, dass dank dieser grossen Firma Thayngen immer noch ein Industriestandort ist. Aber auch Thayngen hat einen industriellen Strukturwandel hinter sich. Es gibt Pläne für eine Neuansiedlung eines Schrottwerks, und es ist genau dieses Projekt, das polarisiert.

Der Stand der «Schaffhauser Nachrichten» wird am Dienstagmorgen nicht gerade belagert, aber doch gut besucht. Aldo Künzli, Vorstandsmitglied des Vereins Wohnqualität Thayngen, kommt mit einem Plan des Quartiers Speck und erläutert die Lärmbelastung des Quartiers durch die Eisenbahn, wo nachts rangiert wird, sowie die J15 und den Lastwagenverkehr. Künzli nennt auch das neue Schrottwerk. «Wir fordern klare Vorgaben hinsichtlich des Lärms», sagt er und fügt hinzu, dass der Lärmpegel gesenkt werden könnte mit einer Schallmauer der Bahn entlang, einer Schallschutzwand an der Strasse zwischen Kesslerloch und Bahnhof sowie einer Temporeduktion auf der J15.

Angesprochen auf den Verkehr im Dorfzentrum sagt Gemeindepräsident Phillippe Brühlmann, dass ihm das auch nicht passe. «Natürlich wäre eine andere Anfahrt besser», sagt er. «Aber wir können die Unilever nicht zwingen.» Bis vor wenigen Jahren hatte die Gemeinde zudem Land entlang der Bahnlinie reserviert, weil die Unilever dort über eine Rampe die Waren abfertigen wollte. «Doch diese Idee wurde verworfen», sagt Brühlmann.

Licht am düsteren Himmel

Während Aldo Künzli noch referiert, sind Sandra Mayer und Gerda Baur vom «Beck vo de Biber», der neuen Bäckerei samt Café in der neuen Überbauung auf der Westseite des Kreuzplatzes, zur kleinen Gruppe beim SN-Stand gestossen. Eigentlich habe sie nur acht Minuten, bis das Brot aus dem Ofen genommen werden muss, sagt Sandra Mayer. Doch sie nimmt sich kurz Zeit, um ihre Freude über die gute Frequentierung des Cafés kundzutun. «Die Leute haben riesige Freude», sagt sie. «Es war eine Lücke im Dorf.» In der Tat gibt es in Thayngen immer weniger Möglichkeiten, um einzukehren. So hat das Restaurant Rustica, ebenfalls am Kreuzplatz, geschlossen, die «Sägi» ist zurzeit ebenfalls nicht geöffnet, das renommierte Restaurant Hüttenleben geht im Herbst zu, und das Restaurant Kreuzstrasse, direkt am Kreuzplatz, das gibt es schon lange nicht mehr.

Einig sind sich alle mit der Bibliotheksleiterin Claudia Ranft, die sagt: «Das neue Café ist das Licht am düsteren Himmel.» Gut frequentiert ist es obendrein, und das Brot, dass Sandra Mayer bäckt, sei «einmalig gut», schwärmt Annerös Bührer. Sie wohnt in Hofen. Wie sich denn das Leben in Hofen verändert habe seit der Fusion mit Thayngen? «Nicht sehr, aber wir haben viele junge Menschen bekommen, die Häuser gebaut haben.» Nein, lacht Annerös Bührer, in Hofen könne man nicht arbeiten, da könne man nur wohnen. «Aber ich lebe wahnsinnig gern in Hofen. Schon seit 40 Jahren.» Aus Burgdorf ist sie einst zugezogen, die Akklimatisation im Reiat sei ihr nicht schwergefallen, und heute engagiert sie sich im Verein Freiwilliges Netzwerk. «Ich gehe jeden Mittwoch zu einer 89-jährigen Dame, begleite sie zum Einkaufen, Kaffee trinken.» Die alte Dame blühe jeweils richtig auf, wenn sie komme, sagt Annerös Bührer. «Sie fühlt sich einsam, aber ins Altersheim? Nein, nie.» Und dann geht Annerös Bührer in das neue Café, wo sie ihre Schwester und ihre Tochter treffen will.

Kommt ein Pferd durch den Kreisel

Das Altersheim Thayngen hat Furore gemacht in der ganzen Region. Unter anderem wegen massiver Kostenüberschreitungen. Bei den Leuten, die in die Bibliothek kommen, sei das aber kein Thema, sagt Claudia Ranft. «Eher reden die Leute darüber, ob sie mit dem Personal dort zufrieden sind oder nicht.» Und dann kommt die Bibliotheksleiterin darauf zu sprechen, dass sie froh gewesen wäre, wenn die Bibliothek in das geplante Kulturzentrum Sternen integriert worden wäre. Da hätte man Synergien schaffen können, meint sie und fügt dann aber hinzu: «Wer geht denn schon dort hinauf?»

Ja, kein Zweifel. Der Kreuzplatz ist das pulsierende Herz von Thayngen. Gemütlich ist es hier nicht gerade, sondern eher lärmig. Aber es lebt. Schulklassen mit ihren Lehrpersonen kommen vorbei, Radtouristen suchen den Radweg nach Schaffhausen, Automobilisten erkennen einen und winken im Vorbeifahren. Und dann kommt eine Frau mit einem Pferd, das sie am Zügel führt. Die Autos müssen abbremsen. Ursina Bührer ist mit ihrem vierjährigen Pony Thunder unterwegs in die Reithalle. Und für einen kurzen Moment hat die Reiat­metropole sogar am hektischen Kreuzplatz eine ländliche Note.

SN-Dorfgezwitscher: Warum man noch immer von der «Knorri» spricht und auch mal beim Dorfputz hilft

Im Jahr 1983 wurde die Gemeinde­bibliothek in Thayngen eingeweiht. ­Damals kamen 160 geladene Gäste zur feierlichen Eröffnung. In den vergangenen Jahren ging der Kundenstamm aber zurück, und Neukunden sind schwierig zu gewinnen. «Ich habe Führungen in der Bibliothek angeboten», sagt Claudia Ranft, «aber dann sind doch wieder nur die gekommen, die ohnehin immer in die Bibliothek kommen.»

Claudia Ranft

Seit dem Jahr 2000 leitet sie die Geschicke der Gemeindebibliothek. Es sei schwierig, Leute anzusprechen und allfällige Schwellenängste abzubauen, so Claudia Ranft. «Der Neuzuzügerapéro ist jeweils eine gute Gelegenheit», sagt sie.

Ennet der Grenze in Schlatt am Randen wohnt Otmar Ritter. «Aber», betont er, «wir kaufen trotzdem immer alles in der Schweiz.» Und das, obwohl er nicht in der Schweiz gearbeitet hat, sondern auf dem Landratsamt.

Ottmar Ritter

Seine Mutter habe in der «Knorri» gearbeitet und sein Vater in der «Zementi». «Was soll ich da nach Hilzingen fahren, wo Thayngen so nahe liegt?» Auch in der Freizeit hat der Jäger Otmar Ritter grenzüberschreitende Kontakte. Sein Jagd­revier grenzt an Thayngen, Barzheim, Bibern. «Wir laden immer wieder Schweizer zu uns ein, und auch wir werden eingeladen. Die Grenze ist kein Thema.»

Roland Hatt kennt die Entwicklung in den industriellen Betrieben Thayngens aus persönlicher Erfahrung. 1979 fing er in der «Knorri» an. Heute ist er in der Unilever als Produktionsmitarbeiter tätig. «Aber ich erkläre den Leuten noch immer, dass ich in der ‹Knorri› arbeite», sagt er. Unter diesem Namen könne man sich etwas vorstellen. Beim Verkauf der Firma an den niederländischen Uni­lever-Konzern im Jahre 2000 sei viel Unsicherheit zu spüren gewesen. «Wir sind heute froh, dass wir noch immer hier arbeiten können.» Vor allem, sagt der Thaynger, weil man mitbekommen habe, was rundherum alles abgelaufen sei: Die «Zementi» gibt es nicht mehr, und die Druckerei Karl Augustin ist bei Weitem nicht mehr das, was sie einmal war. «Früher haben wir den Grossteil des Verpackungsmaterials aus der Augustin-Druckerei in Thayngen bezogen, heute kommt alles aus dem Ausland.»

Spricht man Gerda Baur darauf an, was an den Tischen im Café beim Beck vo de Biber geplaudert werde, sagt sie: «Bei uns ist nur die Neueröffnung der Bäckerei ein Thema.» Die Leute würden sich sehr über das neue Angebot freuen. «Alles andere wird bei uns nicht diskutiert.»

Gerda Bauer

Dora Steinemann lässt für einen kurzen Schwatz mit den «Schaffhauser Nachrichten» sogar ihren Kaffee etwas kalt werden. Was ihr denn unter ihren Fingernägeln brenne? «Mich erschreckt es immer, wenn ich sehe, was die Autofahrer alles an den Stras­senrand werfen. Ich begreife es nicht, das ist eine Sauerei», schimpft sie.

Dora Steinemann

Weil Dora Steinemann aber nicht nur dagegen wettern will, sondern auch etwas für die Sauberkeit ihres Dorfes tun will, hat sie auch schon an Putzaktionen teilgenommen. (dmu/Wü.)

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