Alt blieb alt – und erzählt nun eine Geschichte

Darina Schweizer  | 
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Für Leo Graf und Felix Graf ist der «Weisse Adler» nicht nur ein Sanierungs-, sondern auch ein Herzensprojekt. Bilder: Darina Schweizer

Eineinhalb Jahre lang wurde der «Weisse Adler» saniert und restauriert. Kommendes Wochenende feiert er mit mehreren Führungen seine Eröffnung.

Historiker Felix Graf steht im düsteren Keller des «Weissen Adlers» und schaut zur Decke. Über seinem Kopf wölben sich über 500-jährige Balken aus Eichenholz. Und vor seinen Füssen, dort liegt ein Kindergrab. Zumindest könnte man es auf den ersten Blick meinen. Oder ist es etwa ein Versteck, ein Tresor? Die rechteckige, in Sandstein gefasste Aushebung gibt nicht nur Laien Rätsel auf – auch die Denkmalpflege zerbrach sich den Kopf darüber. Bis der Nachbar aus der «Vorderen Krone» einmal vorbeikam und einen Blick in den Keller warf. «‹Ach, davon habe ich auch zwei zu Hause›, meinte Christoph Rupp», so Felix Graf. «Das ist ein Schöpfschacht aus dem Spätmittelalter. Bei Regen oder Überschwemmungen lief dort das Wasser hinein. Anschliessend schöpfte man es mit einer Holzgelte wieder heraus und trug es auf die Strasse. So etwas kenne ich nur von Stein am Rhein.»

Bürgerhaus wird begehbar gemacht

Der «Weisse Adler» steckt voller Geheimnisse. Einige davon lüftete die Zunft zum Kleeblatt während dessen 1,4 Millionen teuren Sanierung und Renovation in den letzten eineinhalb Jahren. Ihr Ziel: «Durch Führungen soll wieder Leben in das Haus einkehren», so Felix Graf. Schliesslich könne man den Fuss bereits in sämtliche Steiner Wahrzeichen setzen: die Burg Hohenklingen, das Kloster St. Georgen, das Rathaus. Überall sei eine Begehung möglich. «Nur noch nicht in einem Bürgerhaus mit Räumen aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Das soll sich jetzt ändern.» Um dieses Versprechen einzulösen, hat die Zunft alles gegeben – und konnte dabei auf kräftige Unterstützung zählen. Die Schaffhauser Denkmalpflege, der Kanton Schaffhausen, die Stadt Stein am Rhein, die Jakob-und-Emma-Windler-Stiftung und sogar die Schweizerische Eid­genossenschaft haben ihr unter die Arme gegriffen. Das Zunftgebäude hat auch eine wichtige Bedeutung: Es steht unter Bundesschutz. Seine Malereien sind die ­ältesten an Ort und Stelle erhaltenen Schweizer Fassadenmalereien aus der ­Renaissance. Sie stammen aus dem Jahr 1518. «Das macht uns na­türlich besonders stolz», sagt Felix Graf strahlend.

Das eigene Elternhaus überrascht

Langsam öffnet sich die Kellertür oberhalb des Historikers. Ein Mann tritt ins Dunkle. Es ist Architekt Leo Graf, der das Zunfthaus gemeinsam mit seiner Frau ­Andrea saniert und restauriert hat. Für den gebürtigen Winterthurer und heutigen Wahlberner ist es ein Nach-Hause-Kommen, wenn er den «Weissen Adler» betritt. Hier befindet sich sein «lieu de mémoire», sein Elternhaus. Über dieses verfasste seine Frau Andrea vor zwanzig Jahren gar ihre Diplom-Wahlfacharbeit in Denkmalpflege. Und nun durften sie es sanieren, restaurieren und sich auch von dem ihm so bekannten Ort immer wieder über­raschen lassen.

«Den Keller haben wir lange unterschätzt», erzählt Leo Graf. Hier, wo seine Eltern Halbhart- sowie Hartkäse affinierten, war vor eineinhalb Jahren alles komplett mit Dämmmaterial zugebaut. Und einen Warenlift mit Kettenzug gab es hier. Jetzt kommt der Raum mit den uralten ­Bodensteinen, die für ein ausgeglichenes Raumklima sorgen, wieder zur Geltung. In Zukunft wird man hier Weingestelle mieten können. «Apropos Bodensteine: Mir fällt gerade auf, dass diese hier bestimmt aus den Jahren 1480 bis 1520 stammen. Verrückt!», sagt Felix Graf. So geht es den beiden ständig. Sobald sie nach einigen ­Tagen wieder einen Raum betreten, entdecken sie neue «Schätze». Dasselbe geschah erst kürzlich bei der Mauer hinter Leo Graf, die in der Pietra-Rasa-Technik gebaut wurde. «Man hat hier lagenweise Verputze übereinander gestrichen. Und die Bodenplatten, die hier aus der Wand schauen, auf diesen standen einmal Kachelöfen.» Wie aber kommen sie dann in den Keller?

Den «Adler» nicht «zu Tode sanieren»

«Sie wurden wiederverwertet», erklärt Leo Graf. Das heisst: Wenn man einen Stein an seinem ursprünglichen Platz nicht mehr verwenden konnte, nahm man ihn runter in den Keller und reparierte damit die Wände. So kam es, dass manchmal sogar ganze Säulen, wie die in der Zunftstube im ersten Stockwerk, entfernt wurden, da man das Material anderswo brauchte. Diese «Wiederverwertung» griffen Leo und Andrea Graf bei der Sanierung auf. So wurden kaputte Balken nicht partout durch neue ersetzt, sondern teilweise mit Altholz ergänzt. «Das wirkt zwar heute ein bisschen unregelmässig oder gescheckt, aber wissen Sie was? Das ist uns total egal – weil sich die Hölzer in den nächsten Jahrzehnten farblich allmählich angleichen werden», sagt Leo Graf lachend. «Viele Teile sind alt, aber die dürfen auch alt bleiben. Sie sollen das Haus lebendig halten und eine Geschichte erzählen. Wir wollten den ‹Weissen Adler› ja nicht zu Tode sanieren.»

Epochenverband voller Malereien

Dass dies nicht getan wurde, wird klar, sobald man einen Fuss in den Verbindungsgang zum Hof setzt. Beziehungsweise schon bevor man ihn betritt. Dort sind nämlich zwei verschiedene Türen ­angebracht: eine topmoderne Glastür und eine schwere, knirschende Tür aus der Zeit um 1800, die an der Wand gegen den Hof lehnt. Eine Kombination, die harmoniert. Und hinter der Tür geht das Zusammenspiel von alt und neu weiter, ganze Epochenverbände sind dort zu finden: auf einem Wandstück gleich neben dem Eingang des «Weissen Adlers» zum Beispiel, dort, wo der Bioladen des Bolderhofes einziehen wird. Auf den ersten Blick ähnelt die rund zwei Quadratmeter grosse Fläche einer gewöhnlichen Backsteinmauer. Doch weshalb wurde sie offen gelassen? «Das ist ein archäologisches Sichtfenster, durch das man einen Blick in die Vergangenheit werfen kann», erklärt Felix Graf. Klingt geheimnisvoll – und ist es auch.

«Den Keller haben wir lange unterschätzt.»

Leo Graf, Architekt

Was in diesem Sichtfenster nämlich zum Vorschein kommt, ist ein Ausläufer der nordischen Backsteingotik, einzigartig in Stein am Rhein. «Sehen Sie die ‹Hicke›, die über die ganze Fläche verteilt sind? Diese hat man hineingehauen, damit der Kalkputz hielt, als man die Wand im 18. Jahrhundert schliesslich überdeckte», so Leo Graf. Und an gewissen Orten kann man ­sogar noch einen Teil der ehemaligen Bemalung erkennen. Hier kommt zum Vorschein, was sich durch den ganzen «Weis-sen Adler» zieht: Malereien, und zwar von unten bis oben. «Jeder andere Bauherr hätte dieses Sichtfenster zugeputzt. Wir hingegen wollten eine Geschichte erzählen», so Felix Graf. Eine Geschichte erzählen auch die Renaissance-Malereien neben den Fenstern im Repräsentationssaal im zweiten Obergeschoss. Sie sind so alt wie die Aussenmalereien: sage und schreibe 500 Jahre. Erstaunlicherweise sind sie – obwohl sie bereits ziemlich verblasst sind – um ein Vielfaches wertvoller als die Paradiesszene an der Zunftstubenwand, die mit ihren kräftigen Farben und verschnörkelten Formen sofort ins Auge sticht. Wie oft der Schein doch trügt!

Oft sind genau die am meisten verblassten Malereien die wertvollsten: so wie diese Renaissance-Malerei im zweiten Stock.

So zum Beispiel auch einige Meter neben der Paradiesszene. Hier hat der Restaurator Rolf Zurfluh eine winzig kleine, bläu­liche Malerei freigelegt. Erst wenn man einen Schritt näher tritt, erkennt man, ­worum es sich handelt: Es ist ein Wappen. «Wir sind uns noch nicht ganz sicher, aus welcher Zeit es stammt. Aber irgendetwas, das mir durch den Kopf spukt, sagt mir, dass es aus dem 14. Jahrhundert stammen und ein Zeichen dafür sein könnte, dass der ‹Weisse Adler› einst ein weiteres Stadthaus der Herren von Hohenklingen gewesen sein könnte», sagt Felix Graf. Wie er darauf kommt? Weil sich das Mohr-Kaufhaus, das zu dieser Zeit noch vis-à-vis vom «Weissen Adler» stand, ebenfalls in Besitz der Herren von Hohenklingen befand. «Kommen Sie, wir werfen einen Blick hinüber. Und zwar von meinem Lieblingsplatz aus», ruft Felix Graf begeistert und geht die Treppe hoch in den vierten Stock.Hier befindet sich die Viereinhalbzimmerwohnung, welche in Zukunft an eine Familie – vorzugsweise mit Kindern – vermietet werden soll. Felix Graf öffnet die Tür zum Elternschlafzimmer und geht Richtung Hinterzimmer. Er setzt sich in eine kleine Sitznische vor einem Fenster. «Wunderbar, nicht?», sagt er strahlend und blickt nach draussen. Von hier aus hat man einen atemberaubenden Blick aufs Rathaus und hinunter in die Stadt. Kein Wunder, ist dies Felix Grafs Lieblingsplatz. «Ich sehe den ‹Weissen Adler› schon vor mir im Winter. Hell erleuchtet von unten bis oben. Im Parterre ein buntes Treiben im Bioladen, im ersten Stock heitere Veranstaltungen der Zunft, im dritten und vierten Stock eine glückliche Familie. Das wär’s», sagt Felix Graf. Und man spürt, dass es für ihn viel mehr als ein Sanierungsprojekt ist. Es ist ein Herzensprojekt. Vom Keller bis unters Dach.

 

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