«Die Solidarität und die Ehrlichkeit in der Gruppe bedeuten mir sehr viel»

Von Alkohol- bis Kaufsucht: Seit über fünf Jahren gibt es in Schaffhausen eine entsprechende Therapiegruppe, die sich regelmässig trifft.
Therapiegruppe immer donnerstags
Wer Interesse an der Therapiegruppe hat, kann sich unter [email protected] oder unter der Nummer 052 633 60 19 melden.
Anita Bünzli sitzt auf ihrem Stuhl, die Hände hat sie sittsam im Schoss übereinandergelegt. Sie scheint eine Frau zu sein, die es gewohnt ist, sich sorgsam zurechtzumachen: das Haar frisiert, goldene Stecker im Ohr und geschminkte Wimpern, die ihre Augen betonen. Sie lächelt die meiste Zeit sanft, ein freundlicher Mensch, der einem gleich sympathisch erscheint. Anita Bünzli soll etwas über sich selbst erzählen. Also beginnt sie in dritter Person: «Die Frau Bünzli, das ist jemand, der es immer allen recht machen will.» Egal, wie schlecht es ihr gehe, niemals würde sie sich das anmerken lassen, vor allem – Gott bewahre – nicht vor Arbeitskollegen. «Immer lächeln, immer freundlich sein», sagt Frau Bünzli.
Doch es hat Phasen in ihrem Leben gegeben, da hat sie versucht, mit Alkohol ihren Sorgen auszuweichen. Und selbst da hiess es: lächeln, freundlich sein. Nur daheim bei der Familie und hier in der Therapiegruppe der Fachstelle für Gesundheitsförderung, Prävention und Suchtberatung in Schaffhausen kann sie sich so geben, wie sie ist: «Hier darf ich lachen, aber auch weinen.» Keiner würde sie deswegen verurteilen. Seit zwei Jahren kommt sie regelmässig zu den Treffen, ihre Alkoholsucht hat sie mittlerweile gut im Griff. Sie kommt trotzdem weiterhin.
Jeder kommt zu Wort
Anita Bünzli heisst natürlich anders. Der Name, den sie auf ihr Namensschild geschrieben und mit einer Sicherheitsnadel auf Brusthöhe fixiert hat, erschien ihr einfach passend: «Bünzli, so nennt man auch jemanden, der unscheinbar ist, jemand, der versucht, immer alles richtig zu machen.» Auch die anderen Teilnehmer, zwei Frauen und vier Männer, die sich an diesem Donnerstagabend im Chirchgmeindhuus Ochseschüür in Schaffhausen treffen, haben sich andere Namen gegeben. Sie möchten in der Zeitung nicht erkannt werden. Die Angst, jemand könnte etwas von ihrer Sucht erfahren und sie vorverurteilen, ist zu gross. Zwei Stunden dauert das Treffen, das von den Suchtfachfrauen Veronika Schnetzer und ihrer Co-Leiterin Michaela Knecht angeleitet wird. Jeder kommt zu Wort, je nachdem, wie viel er sagen möchte. Einen Zwang gibt es nicht.
Es geht jetzt im Kreis reihum, jeder soll etwas über den Namen, den er sich ja ganz bewusst erwählt hat, sagen. Manche zeigen sich sehr kreativ: Marianne Kägi zum Beispiel, die sich an den Schokoladenwaffel-Werbespruch «Glück ist ein Kägi!» erinnert hat. Sie selbst habe in ihrem Leben nicht wirklich viel Glück erfahren. Auch sie redet in dritter Person, was eine Distanz schafft, zu sich selbst und zu dem, was man erlebt hat: «Frau Kägi war ein sensibles Mädchen, aber sie hatte einen Vater, der sehr gewalttätig war.» Und in der Schule seien die Lehrer kaum zimperlicher gewesen. Auch Marianne Kägi hat ein Problem mit Alkohol.
«Bei mir ist alles geleast»
Tatsächlich haben die meisten hier ein Problem mit Hochprozentigem. Zeitweise war aber auch schon einmal eine Frau mit einer Essstörung und ein junger Mann mit Sexsucht da. Die Gruppe steht jedem offen, der ein Problem hat mit Sucht, welcher Art auch immer. Max Müller etwa, er sitzt in der Runde ganz entspannt auf seinem Stuhl, hat die Beine ausgestreckt und die Arme vor der Brust verschränkt, ist dem Kaufwahn verfallen. In der Psychologie wird das als Zwangsstörung eingestuft. «Bei mir ist alles geleast», sagt er freimütig. Schlimm sei, dass er gerade zu etwas Geld gekommen sei. Bis zum letzten Rappen wird er es ausgeben. Dabei würde er gerne etwas auf die Seite legen. «Damit ich mir ein Auto kaufen kann», sagt er, um wenige Minuten später zu erklären: «Ich beginne morgen mit dem Sparen.» Leider sagt er es so, als würde er selbst nicht daran glauben. Warum er regelmässig hierherkomme? «Das sind zwei Stunden, die ich mal nicht einkaufen gehe», erwidert er, «ausserdem bedeuten mir die Solidarität und die Ehrlichkeit in der Gruppe sehr viel.»
Gleich zum Kern des Problems
Genau das schätzen auch die anderen Teilnehmer. «Sie haben über die Zeit ein starkes Vertrauen zueinander aufgebaut», sagt Veronika Schnetzer, «und die Toleranz ist in der Gruppe sehr hoch.» Man kenne die Probleme der anderen genau und würde deshalb auch nicht lange um den heissen Brei herumreden. Ungefiltert kämen die Frauen und Männer immer recht schnell zum Kern ihres jeweiligen Problems. Dabei wird nicht nur über die jeweilige Sucht geredet, sondern auch über anderes, das Sorgen bereitet oder Probleme schafft. Schnetzer leitet letztlich die Teilnehmer nur an, sie gibt Anstösse und mögliche Themen vor. Was die Frauen und Männer dann daraus machen, bestimmen sie ganz allein.
Schnetzer wird bei jeder Sitzung von ihrer Kollegin Michaela Knecht unterstützt. «Es ist einfacher, wenn man zu zweit ist», sagt Knecht. «Während die eine die Gruppe anleitet, kann die andere sehen, wie die einzelnen Teilnehmer reagieren.» Sie räumt ein: «Die Moderation ist manchmal schon sehr schwierig. Es kann vorkommen, dass alle am Thema vorbeilaufen. Und sie dann wieder einzufangen ...» Doch letztlich, das würden die Rückmeldungen und auch die jeweiligen Fortschritte der Teilnehmer zeigen, bringe der Austausch in der Gruppe jedem etwas. Und auch sie selbst habe durch die Menschen hier schon sehr viel gelernt. «Eigentlich nehme ich nach jeder Sitzung etwas mit nach Hause.»
Nach der ersten Stunde gibt es eine kurze Pause. Die braucht es auch. Bei so viel emotionalem Stoff muss man einmal durchschnaufen. Tatsächlich fühlt man sich in der Runde, die zwischendurch auch einmal heiter sein kann, sehr gut aufgehoben: Und so ertappt man sich plötzlich, wie man selbst anfängt, über eigene Süchte zu sprechen. Und eine Sucht, mehr oder weniger stark ausgeprägt, hat ja so gut wie jeder Mensch. Da kann es helfen, wenn man merkt, dass man nicht allein ist. Neulich erst habe sich eine Frau, sie war bei dieser Sitzung nicht dabei, vor der Gruppe komplett geöffnet: Trotz einer tiefen Krise, in der sie sich befand, hat sie alle mit ihrer plötzlichen Stärke überrascht. «Das hat einige beeindruckt», sagt Schnetzer, «und angeregt, etwas in ihrem Leben zu verändern.»