Den Bürgern auf der Spur

Wenger meint ...
Jetzt mal ehrlich: Wann wurden Sie von Ihrer Partei das letzte Mal gefragt, welche Sorgen Sie haben, quasi «wo der Schuh drückt»? Seit ungefähr 40 – wohl mindestens gefühlten 120 – Jahren bin ich Mitglied der Freisinnigen der Schweiz. Aber ich kann mich nicht erinnern, einmal auf meine wichtigsten Anliegen in den so wechselvollen Abschnitten meines Lebens angesprochen worden zu sein. Im Gegenteil: Die Parteivorstände wussten immer schon alles. Es kamen Positionspapiere. Es kamen Empfehlungen und Parolen. Aber als einfaches Parteimitglied je Gelegenheit erhalten zu haben, mein Sorgenbarometer, meine bundespolitischen Anliegen, meine Vorstellungen von einem freiheitlich, aber dennoch leistungsfähig organisierten Staat darlegen zu können? Fehlanzeige.
Letzthin sprach eine Telefonumfrage genau dies an. Ich hoffte, die neue Parteipräsidentin habe sich nun an die «Basis» gewandt. Weit daneben! Es war eine Marketingagentur im Auftrag einer mir unbekannten Privatfirma. Die waren nicht am Staatsbürger interessiert, sondern am Konsumenten.
Und meine Partei? Eigentlich gibt sie mir nicht viel Anlass zu vermuten, dass sie es anders macht. Auch sie scheint mich weniger als Staatsbürger denn als Stimmvieh und Beitragszahler wahrzunehmen. Insofern hat sich die Privatwirtschaft doch schon ganz erfreulich ins politische Geschäft gemixt, oder nicht?
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden ersetzt durch Konsumenten, Produzenten, Beamte, Versicherungsagenten, Klienten, Hauseigentümer, Mieter und Vermieter, Kranke und Kassen, Arzte und Verbände. Wo aber bleibt – nach Jean-Jacques Rousseau definiert – eigentlich der «Citoyen»?
Wahrscheinlich ist er gestorben, wurde von Spekulanten abgezockt, oder er hat sich bei Facebook verirrt.
Ich finde ihn, den unabhängigen, wirklich frei und manchmal querdenkenden politischen Inspirator nicht mehr. Kann es sein, dass ich die falschen Vorbilder habe? Ist es vermessen, zum Beispiel an Otto Fischer oder Ueli Bremi zu denken, auch wenn man mit ihnen nicht alle Ideen teilte? Sie waren öffentlich präsent, wagten sich in Diskussionen mit Andersdenkenden und redeten mit «dem Volk». Sie brauchten für ihre Botschaften weder die «Arena» noch die üblichen PR-Büros und Plakat-Kleckser. Und sie konnten auch mal verlieren, ohne nachher mit Fingern auf vermeintlich «Schuldige» zu zeigen. Davon sind wir heute weit entfernt.
Im täglichen Gerangel um Parteipositionen und Mehrheiten geraten übergeordnete Staatsziele wie Sicherheit, Souveränität und das Generationenwerk der Altersvorsorge mehr und mehr unter die Räder. Ein Blick auf unsere politische Realität offenbart: Die Egoisten, Lobbyisten und Nabelschauer haben die liberalen Köpfe und «Citoyens» verdrängt. Dafür werden Technokraten, Demoskopen und Wissenschaftler «montiert». In allen Lagern von rechts bis links dominieren vor allem «bourgeoise» Ton-Angeber. Vom Verteilexzentriker bis zum Privilegien-Beschaffer politisiert man nach dem Motto: «Hauptsache, es nützt mir – dann nützt es allen!»
Die gescheiterte Unternehmensbesteuerung oder auch die schon mehrfach abgestürzten Versuche zu Reformen der Altersvorsorge dokumentieren dieses Trauerstück schweizerischer Politik. Es ist ein Theater, das sich Jean-Jacques Rousseau, der Schweizer Vordenker einer liberalen Demokratie, wohl kaum einen Sitzungsmorgen lang ansehen würde. Uns wird es frei Haus und per SRF geliefert. Rousseau, der schon in seinem Werk «Du contrat social» die Doppelnatur der Bürger erkannt und ihre Integrität an der Fähigkeit, den Egoismus zurückzustellen, gemessen hatte, würde wahrscheinlich auf der Besuchertribüne im Bundeshaus zusammenbrechen. Erstickt vom «Einfluss der Privatinteressen auf öffentliche Angelegenheiten».
Auf der Suche nach mehr Staatsbürgern im Wortsinn müssen wir entscheiden, ob wir künftig im Parlament nur «Bourgeois» wollen oder vielleicht doch etwas mehr. So würde sich wahrscheinlich auch klären, was denn nun «bürgerliche Politik» ist und was nicht. Ich persönlich halte es nicht für «bürgerlich», wenn die Altersreform nur deshalb scheitern sollte, weil die Privatversicherer im BVG ein höheres Prämienvolumen anstelle des AHV-Zuschlages «einfahren» wollten und nun «sauer» sind, dass es knapp danebengegangen ist. Ich halte es auch nicht für «bürgerlich», wenn dabei ausgeblendet wird, welche Provisionen anfallen und aus welchen Vorzimmern und Rechtsabteilungen der Finanzindustrie der Vorschlag stammte. Wenn schon «bourgeois» politisiert wird, dann bitte transparent, damit wir Citoyens merken, wer auf unsere Rechnung bestellt.
Vielleicht geraten wir so wieder mehr den Bürgern auf die Spur statt nur den Lobbyisten auf den Leim.
Marcel Wenger war von 1989 bis 1996 Baureferent und von 1996 bis 2008 Stadtpräsident von Schaffhausen.
Die An- und Einsichten unserer Kolumnisten publizieren wir gerne, weisen aber darauf hin, dass sie selbstverständlich nicht mit jenen der Redaktion übereinstimmen müssen.