Medizinisches Versorgungszentrum geplant: Hegaugemeinden werden Arbeitgeber für Ärzte

Gailingen und Gottmadingen wollen dem Hausarzt-Notstand mit der Gründung eines gemeinsamen Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) begegnen. Auch Singen plant ein MVZ. Dafür müssen die Kommunen Bürgschaften in Millionenhöhe leisten.
Den Gemeinden im Hegau droht in den kommenden Jahren eine krasse medizinische Unterversorgung durch Hausärzte. Während die geburtenstarken Jahrgänge immer älter werden und mehr medizinische Betreuung benötigen, verabschieden sich genau aus dieser Generation immer mehr Ärzte in den Ruhestand. Lange musste sich zum Beispiel Gottmadingens Bürgermeister Michael Klinger Kritik von Bürgern anhören, weil die Gemeinde sich angeblich zu wenig um ein Konzept gegen den Ärztenotstand in Gottmadingen getan habe. Sie schilderten Situationen, in denen Bürger einen Ärztemarathon hinter sich bringen mussten, um verschreibungspflichtige Medikamente zu bekommen.
Ihr Lösungsvorschlag war die Gründung eines Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ), wie es bereits seit Jahren in Engen besteht oder wie es in Tengen als Ärztehaus an den Start ging. Gestützt wurde diese Idee vom Sprecher der niedergelassenen Ärzte Christoph Graf, der sich schon seit 2009 für ein MVZ ausspricht, um dem Notstand zu begegnen. Doch das ist rechtlich nicht so einfach.
Im Hintergrund wurde verhandelt
Während die Arbeitsgruppe öffentlich gegen die Gemeinde polterte, wurde im Hintergrund längst mit Gailingen verhandelt. Denn auch in der Hochrheingemeinde droht die hausärztliche Unterversorgung. Bürgermeister Thomas Auer und Michael Klinger einigten sich mit ihren jeweiligen Gemeinderäten auf die Gründung eines gemeinsamen Medizinischen Versorgungszentrums. Man tauschte sich mit der Grossen Kreisstadt Singen aus, die im gleichen Dilemma steckt. Allein in Singen werden in naher Zukunft zwölf Kassensitze für Hausärzte vakant. In Gottmadingen und Gailingen sind Allgemeinmediziner bereits längst im Pensionsalter.
Die Übergabe an jüngere Kollegen scheitert daran, dass das Modell des allzeit abrufbaren Landarztes heute nicht mehr attraktiv ist für junge Ärztinnen und Ärzte. Diese wollen sich nicht mehr alleine für den Beruf aufopfern, sondern auch für ihre Familien da sein. Der Wunsch nach einer einigermassen geregelten Arbeitszeit oder Teilzeit verträgt sich nicht mit dem Modell der Einzelpraxis. Der klassische Hausarzt, der rund um die Uhr für seine Patienten da ist, ist eine aussterbende Spezies. Hinzu kommt, dass auch das medizinische Personal Mangelware ist. Das schlägt bis zu den Notfallpraxen durch, die ihre Dienste stark einschränken.
Versorgungszentrum als GmbH
Um den Menschen dennoch eine langfristige medizinische Versorgung anbieten zu können, haben sich die Gemeinden entschlossen, gemeinsam ein kommunales MVZ in Form einer GmbH zu gründen. Das bedeutet, dass die Gemeinde in eine Arztpraxis einsteigt und so zum Arbeitgeber für Ärzte und medizinisches Personal wird. Das medizinische Personal arbeitet mit Anstellungsvertrag und kann sich auf die Patienten konzentrieren. Die Bürokratie wird ausgelagert.

Man startet in Gailingen und Gottmadingen mit zwei bestehenden Arztpraxen, deren Inhaber sich bereit erklärt haben, noch für ein Jahr weiterzupraktizieren. «Damit haben wir eine Basis geschaffen, um Ärzte bei uns mit verlässlichen Arbeitszeiten anzustellen zu können», sagt Klinger. Mit einem Plakat in der Hauptstrasse hat Gottmadingen Allgemeinmediziner gesucht. Es hätten sich Ärzte gemeldet, erfährt man vom Kämmerer Andreas Ley. «Es haben sich junge Ärzte gemeldet, die aber nicht das Risiko der Selbständigkeit eingehen wollen, sondern lieber mit Vertrag arbeiten wollen.»
Der Start ist im April 2024
Zum 1. April soll die MVZ GmbH starten. Gottmadingen wird zwei Drittel der Anteile halten, Gailingen einen Drittel. Damit betreten die Gemeinden völlig neues Gelände, weil sie zu Arbeitgebern für Ärztinnen und Ärzte werden. Die Aufgaben als Dienstleister werden wachsen. Dessen ist man sich auch in den Reihen der Gemeinderäte bewusst.
Kaum waren die Beschlüsse für das MVZ in den Gremien gefasst, zogen auch schon wieder dunkle Wolken auf. Nach der formellen Gründung der MVZ-Gottmadingen-Gailingen GmbH geht es zum einen um die Geschäftsanteile der Gesellschafter; zum andern müssen die Gemeinden eine Bürgschaft in Höhe von 3,48 Millionen Euro stemmen. Damit will sich die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) vor Abrechnungsfehlern schützen. Für die Gemeinden mit 2800 und 10 000 Einwohnern sind Bürgschaften in der Grössenordnung ein Kraftakt. Sie sind zwar laut Sozialgesetzbuch verpflichtend; die Höhe der Bürgschaft ist dort aber nicht festgelegt. Die KVBW langt mit fünf Jahressätzen pro Arztsitz richtig zu.
«Bodenlose Frechheit»
Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler bezeichnet das als «bodenlose Frechheit». Thomas Auer liess sich am Rande eines Bürgermeistertreffens mit folgenden Worten zitieren: «Das nervt uns drei tierisch an.» Und Michael Klinger kritisiert mit scharfen Worten, dass die KV den Kommunen in einer echten Notlage auch noch Steine in den Weg lege. Zwar sei das Risiko, dass die Bürgschaft in Anspruch genommen werden müsse, äusserst gering; das Geld müssten die Gemeinden mit Hilfe von Banken in einer ohnehin schwierigen Finanzlage trotzdem bereitstellen. Nun hoffen die Gemeinden, dass sie mit diesem Modell junge Hausärzte anlocken können.