Mixtape vs. TikTok

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Mit nostalgischen Gefühlen blickt Eva-Maria Brunner in die Zeit zurück, in der jeder eine «Kassettli»-Sammlung besass. Bild: Pixabay

Die Kolumnistin Eva-Maria Brunner reist in ihre Jugendzeit zurück und schreibt über Bands, Kassetten und vier Meter CDs.

von Eva-Maria Brunner

Waren Sie ein Heavy oder ein Popper? Fuhren sie ein Puch-Maxi-Motorrad, trugen eine Jeansweste mit Aufnähern und hörten Sie AC/CD? Oder besassen Sie ein Ciao-Töffli, waren gut frisiert und tanzten zu Eros Ramazotti? Wenn Sie diesen Themenkomplex verstehen, waren Sie vermutlich wie ich ein Teenager in den frühen Neunzigerjahren. Sie wissen, dass mit dieser Frage ein klares Bekenntnis abgelegt wurde. Unsere Zimmer waren tapeziert mit Postern. Wir schminkten uns wie unsere Idole, «kalligrafierten» Band­namen auf Rucksäcke und lernten Liedtexte auswendig. Wusste man als  Pubertierende nicht, wie die nächste Franz-Klausur ausfallen würde oder ob Markus aus der 2 b nicht doch auf die blöde Sandra steht – die Liebe zu unseren Bands war unzerstörbar und gab Halt. Ich habe Schuhschachteln voll selbstaufgenommener Kassetten (siehe unten) und vier Meter CDs, die ich zwar nicht mehr höre, angesichts derer ich aber immer noch hoffe, dass dieser Schatz dereinst meine Kinder erfreuen wird. Aber langsam dämmert mir, dass Muttis Musikarchiv meinen Nachwuchs kaltlassen wird.

Letzthin fragten wir unsere bald 14-Jährige, welche Bands ihr besonders gefallen. Schulterzucken. Es gebe Lieder, die finde sie nicht schlecht. Aber sie wisse doch nicht, von wem sie seien. Sie muss uns wohl angesehen haben, dass wir ihr nicht so ganz folgen konnten. Pünktchen erklärte geduldig: Es gibt Clips (nein, vermutlich heisst es heute anders, konnte ich mir nicht merken) auf Tiktok, die gehen viral (für ­Oldies: Krethi und Plethi guckt die Filmchen), diese sind mit Musik hinterlegt, die findet man dann toll für «öppe e Wuche» und dann kommt der nächste Song für die nächste Woche. Ausserdem seien die Lieder oft nicht die Originale, sondern schneller abgespielte oder mit mehr Elektro getunte Versionen. Jä so. An die Stelle angehimmelter Boygroups sind anscheinend Youtuber getreten, denen unsere Jugend dabei zuschaut, wie sie Videospiele spielen oder Influencerinnen, die Tipps geben, welche Haarspülung aus dem Drogeriemarkt gekauft werden soll. Finde ich persönlich nur mässig aufregend, aber so soll es ja sein. Jugendphänomene, welche von den Eltern nachvollzogen werden können, erfüllen ihren Zweck nicht. Aber ich kann gut verstehen, dass die unermessliche Zahl und ­Vielfalt an Musikerinnen, Sängern und Bands das Gefühl der Zusammengehörigkeit verunmöglicht.

«Wir Kinder aus dem letzten Jahrtausend investierten Geld, Zeit und Herzblut in unser Fan-Dasein.»

Die Auswahl ist zu gross, um dieses heimelige Gefühl, einem Lager anzu­gehören, herbeizuführen. Wenn Informationen rund um die Uhr auf diversen Kanälen verfügbar sind, kann ich gar nicht mehr alles über «meinen» Star sammeln und in ein ­Album kleben. Ich sparte Silva-Punkte (wer kennt sie noch?) und Taschengeld für meine erste Whitney-Houston-Kassette, verbrachte Sonntagnachmittage vor dem Radio, darauf hoffend, dass der DRS-3-Hitparaden-Moderator nicht ins Musikstück hineinsprach, damit meine Tonbandaufnahme möglichst perfekt wurde.

Wir Kinder aus dem letzten Jahrtausend investierten Geld, Zeit und Herzblut in unser Fan-Dasein. Heute streamen die Jugendlichen gezielt einzelne Songs oder hören den Mix der Woche, welchen der Algorithmus für sie ausrechnet. Kostet nix, man hat ja das ­Familienabo des Streaminganbieters und wird von unliebsamen musika­lischen Überraschungen aus unbekannten Genres verschont. Das ist bequem, aber leider auch ziemlich leidenschaftslos. Alle diejenigen, welche einmal ein Mixtape erstellt haben oder mit einem beschenkt wurden, nicken jetzt wissend. Eine Kassette, welche bestückt wurde mit Liedern, die mit Bedacht ausgesucht wurden. Das ­Erstellen war höchst aufwendig, Mixtapes transportierten eine offensichtliche oder versteckte Botschaft, folgten einer einzigartigen Dramaturgie; waren Kostbarkeiten. Eine Liebeserklärung auf Magnetband. Ich würde meiner Tochter gönnen, dass sie auch mal ein Mixtape bekommen würde. Der Sympathie der Mutter könnte sich der Schenkende gewiss sein.

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