«Eine Zweiklassengesellschaft wird sich nicht verhindern lassen»

Eva Kunz | 
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Wohl bald wieder Realität: Schlangestehen vor einem grossen Konzert. Symbolbild: Pixabay

Wer über ein Covid-19-Zertifikat verfügt, soll bald wieder Grossveranstaltungen besuchen dürfen. Besteht die Gefahr, dass wir in eine Zweiklassengesellschaft münden? «Da bin ich mir ganz sicher», sagt Ethiker Peter Kleist.

Zusammen tanzen, mit Gleichgesinnten feiern, dazu gehören. Über ein Jahr finden Grossveranstaltungen nur noch in unseren Köpfen statt. Ab Juli sollen nun aber Veranstaltungen mit bis zu 3000 Personen endlich wieder möglich werden. Und auch ein vorsichtiger Blick auf den Herbst lässt nicht nur träumen, sondern erwarten, dass sich noch mehr Menschen zusammen an einem Ort feiern dürfen. Mit einer Bedingung. Das Nadelöhr ist das Covid-19-Zertifikat. Es soll die Menge in jene teilen, die eingelassen werden, und jene, die draussen bleiben müssen. Droht eine Zweiklassengesellschaft? Die SN haben mit Peter Kleist gesprochen. Er ist Geschäftsführer der kantonalen Ethikkommission Zürich, die auch für den Kanton Schaffhausen zuständig ist. Er stellt gleich zu Beginn des Gesprächs klar, dass er als Privatperson und nicht im Namen der Ethikkommission spricht.

Herr Kleist, die Pandemie hat uns viele Freiheiten genommen. Sind da die geltenden covid-bedingten Massnahmen noch gerechtfertigt?

Peter Kleist: Generell sind die covid-bedingten Massnahmen nach wie vor notwendig. Bestimmte Einschränkungen für geimpfte Personen sind aber fraglich.

Welche?

Wenn beispielsweise eine geimpfte Person mit einer infizierten Person Kontakt hatte, müsste sie sich in Quarantäne begeben. Das ist eine sehr deutliche Einschränkung des Lebensradius und es fällt schwer, diese Massnahme als notwendig nachzuvollziehen und zu rechtfertigen.

Was rechtfertigt dann aber die aktuell geltenden Massnahmen im Allgemeinen?

Die Mehrheit der Bevölkerung unterliegt nach wie vor einem Erkrankungsrisiko. Wir müssen die Personen schützen, die ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe aufweisen. Das Gesundheitssystem muss funktionsfähig bleiben. Das alles rechtfertigt Einschränkungen, und ich stehe voll und ganz hinter entsprechenden Massnahmen. Aber es sind dennoch Einschränkungen von Grundrechten. Wir leben in einem demokratischen Staat, und jede Grundrechtseinschränkung muss sich anhand eines übergeordneten Ziels wie dem Lebensschutz rechtfertigen lassen. Da wird sich im Verlauf der nächsten Monate etwas ändern.

Plädieren Sie also für mehr Rechte für Geimpfte?

Wenn es um Einschränkungen von Grundrechten und Bewegungsfreiheit geht, dann denke ich, muss man dem Rechnung tragen: Sind Leute geimpft, sind sie nicht nur selber geschützt, sondern schützen durch die Impfung auch andere. Man kann es mittelfristig nicht mehr rechtfertigen, ihnen bestimmte Rechte zu nehmen.

Peter Kleist, Geschäftsführer Ethikkommission Zürich
«Ungleichheiten darf es meiner Meinung nach erst geben, wenn alle die Möglichkeit hatten, einen Impftermin wahrzunehmen.»
Peter Kleist, Geschäftsführer Ethikkommission Zürich

Sie sind also für eine Sonderbehandlung von Geimpften.

In Bezug auf zukünftige Massnahmen, denke ich, dass allgemeine Massnahmen wie Abstand halten und Maske tragen weiterhin bleiben werden. Ob man geimpft ist oder nicht. Das liesse sich schon aus Solidaritätsgründen nicht rechtfertigen, wenn damit Ausnahmen gelten würden.

Warum? Was würde denn passieren, wenn Geimpfte wieder alles dürften?

Es würde wahrscheinlich dazu führen, dass Massnahmen generell nicht mehr befolgt würden. Und wie will man das auch überprüfen, wer von den Leuten auf der Strasse geimpft ist und wer nicht. Ich glaube, in dem Punkt wird es erst Lockerungen geben, wenn ein Grossteil der Bevölkerung geimpft ist und wenn alle Personen, die von einer Impfung profitieren, ein Impfangebot erhalten haben. Erst dann kann man gesamtgesellschaftlich überlegen, ob man bestimmte Dinge lockert oder nicht.

Stichwort Lockerungen: Der Bundesrat denkt daran, der Gesellschaft Grossveranstaltungen bald wieder zu ermöglichen. Als Einlass-Ticket soll ein Covid-Zertifikat fungieren. Die Corona-Demos zeigen aber, dass die Gesellschaft in puncto Covid-Massnahmen bereits geteilt ist. Würde ein solches Zertifikat gar eine Zweiklassengesellschaft entstehen lassen?

Da bin ich mir ganz sicher, dass sich das in diese Richtung bewegen wird.

Warum denken Sie das?

Sagen wir, Sie sind Restaurantbetreiber. Sie wollen, dass Ihr Restaurant geöffnet bleibt und die Gäste maximal geschützt werden. Also gewähren Sie nur jenen Einlass, die nachweisen können, dass sie sich und andere schützen – mit einem aktuellen negativen Testergebnis oder einem Zertifikat. Das ist Ihr Recht. Hier wird man einen Privatanbieter kaum einschränken können. Ein Privater kann letztlich selbst entscheiden, aufgrund welcher Bedingungen er wen einlässt oder nicht. Es lässt sich darüber streiten, ob wir uns ein wenig zu einer Zweiklassengesellschaft bewegen oder nicht. Ich glaube, es wird sich letztlich gar nicht verhindern lassen.

Aber aktuell sind Private ja pandemiebedingt noch nicht frei in ihrer Entscheidung.

Noch sind wir an einem Punkt, an dem die Minderheit der Bevölkerung geimpft ist. Aber das wird sich ändern. Wie vorhin bereits angedeutet, glaube ich, dass der Scheitelpunkt dort sein wird, an dem alle ein Impfangebot erhalten haben. Dann wird man bestimmte Einschränkungen aufheben können. Ab da sind auch Gastronomen oder Anbieter von Veranstaltungen wieder freier in ihrer Entscheidung, wie sie gewisse Dinge regeln wollen. Dieses Recht wird man ihnen irgendwann auch nicht mehr nehmen können.

Kommen wir zurück zum Covid-Zertifikat. Ist so etwas überhaupt ethisch vertretbar? Menschen also entweder aus- oder einzuschliessen? Und das alles aufgrund ihrer freien Entscheidung, sich impfen zu lassen oder nicht?

Wir haben mit der Impfung eine sinnvolle und sehr wirkungsvolle Massnahme. Ungleichheiten darf es meiner Meinung nach erst geben, wenn alle die Möglichkeit hatten, einen Impftermin wahrzunehmen. Ab diesem Punkt finde ich eine gewisse Ungleichbehandlung völlig legitim. Es ist die Entscheidung jedes Einzelnen, zu sagen: Ich lasse mich impfen – dann stehen mir wieder grössere Freiheiten zur Verfügung. Oder ich sage: Ich lasse mich nicht impfen – dann muss ich konsequenterweise mit Einschränkungen leben. Alternativ wird ja weiterhin die Möglichkeit zum Testen bestehen. Mit einem negativen Testergebnis lassen sich Ungleichheiten wieder aufheben. Das ist ja heute bereits so, dass ein negativer Test bestimmte Einschränkungen aufhebt.

Trotzdem: Kann man da nicht schon fast von einer verdeckten Impfpflicht sprechen?

Wir sind weit davon entfernt, in der Schweiz eine Impfpflicht durchzusetzen. Da waren wir in der Schweiz auch bei anderen Impfungen immer sehr zurückhaltend. Aber es gibt starke Anreize, sich impfen zu lassen. Der Entscheid, sich nicht impfen zu lassen, bringt unweigerlich tiefgreifende Konsequenzen mit sich. Sich impfen zu lassen oder sich nicht impfen zu lassen, sind freiwillige Entscheide. Sich nicht impfen zu lassen, bringt logischerweise Konsequenzen mit sich. Es kann dazu führen, dass der Bewegungsradius in der Öffentlichkeit kleiner wird. Ich glaube, man kann das Ganze nur im Paket annehmen.

Was meinen Sie damit?

Es ist jedem freigestellt, zu sagen, ich brauche das nicht und nehme somit das Risiko in Kauf, zu erkranken und dabei vielleicht ein Long-Covid-Syndrom zu entwickeln. Auf der anderen Seite geht es ja nicht mehr nur darum, sich selber, sondern auch andere zu schützen. Wer diese Verantwortung nicht übernehmen möchte ... In diesem Fall kann man meiner Meinung nach auch mit Ungleichheiten leben. Also, dass Menschen, die diese Verantwortung nicht übernehmen wollen, dann von bestimmten Aktivitäten in der Gesellschaft ein Stück weit ausgeschlossen werden. Wie bereits gesagt: ein negativer Test hebt Ungleichbehandlungen jedoch wieder auf. Der Verzicht auf eine Impfung wird regelmässiges Testen zur Folge haben.

Wann wird es ethisch grenzwertig?

Wenn es diskriminierend wird.

Wann wäre das beispielsweise der Fall?

Etwa, wenn ein Arbeitgeber sagen würde: Ich stelle nur noch Personen ein, die geimpft sind.

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