Erfahrungsbericht eines Depressiven: «Bis nichts mehr ging»

Ralph Denzel | 
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«Eine Depression ist die Hölle» Bild: Pixabay

Zweidrittel der Schweizer litten bereits unter psychischen Problemen. Wir haben mit jemanden gesprochen, der eine schwere Depression hinter sich hat, die ihn fast besiegt hätte.

Noah* zieht nervös an seiner Zigarette.

Sein Blick ist ausweichend, während er redet. Eigentlich wirkt  Noah im Normalfall aufgeschlossen, manche Leute bescheinigen ihm eine «gewinnende Persönlichkeit» - aber nicht jetzt, da er über die, wie er sagt, «schrecklichste Zeit seines Lebens» redet.

Noah ist nicht sein richtiger Name – den will er nicht in einer Zeitung lesen. «Ich habe Angst, dass mein Arbeitgeber rausbekommt, dass ich mal so krank war», begründet er diese Entscheidung, während er die Zigarette in einem Aschenbecher ausdrückt. Man glaubt kaum, was er einem zu erzählen hat, von dieser «schrecklichsten Zeit seines Lebens». Als er unter einer schweren Depression litt, Suizidgedanken hatte und einmal mit einem Strick in der Hand kurz davor war, sich umzubringen.

Er ist einer von vielen Menschen, die an einer psychischen Erkrankung litten. Erst vor kurzem berichtete die SN darüber, dass zwei Drittel der Schweizer im Verlauf ihres Lebens schon einmal unter psychischen Problemen gelitten haben. Das Thema ist aber immer noch tabu, auch für Noah. «Viele Leute verstehen nicht, was eine Depression eigentlich bedeutet.» Dem anonymen Gespräch hat er zugesagt, weil er will, dass sich dies ändert – und damit auch Menschen verstehen, dass es sich dabei um eine wirkliche Krankheit handelt und man eben nicht «einfach nur mal traurig ist».

Alles scheint perfekt – bis alles schief geht

Rückblickend beschreibt Noah sein Leben kurz vor dem Ausbruch seiner Krankheit als schön. «Ich war glücklich, hatte eine liebevolle Partnerin, ein schönes Zuhause und habe gerade meinen Traumjob begonnen.» Noah wollte immer schon Lehrer werden. Rückblickend sagt er, er habe «sein ganzes Leben nur dieses Ziel gehabt.»

Als er dann damit beginnt, ist es am Anfang für ihn wie ein Rausch. Er lächelt, zum ersten Mal seit er über diese Zeit in seinem Leben spricht. «Die Schüler haben mich gemocht, meine Kollegen waren super – und ich habe viel Lob für meine Arbeit bekommen.» Während er weiterspricht, verdunkelt sich sein Gesicht zusehend. «Das Problem war, dass meine Prüfer das immer anders sahen.»

Noah wollte unbedingt Lehrer werden. Bild: Pixabay

Noah hat seine Lehrerausbildung in Deutschland absolviert. Dort erfolgt sie nach dem Studium zweigleisig: Einerseits müssen die angehenden Lehrer regelmässig in Seminare, andererseits werden sie an der Schule direkt von «Mentoren» betreut. Das Ziel des sogenannten Referendariats ist das Zweite Staatsexamen. Die Beurteilung dafür übernehmen jedoch nicht die Mentoren, sondern Lehrer aus dem Seminar. «Da lag das Problem», so Noah. «Diese Leute sehen ein paar Stunden – und entscheiden anhand dieser, ob man zum Lehrer geeignet ist oder nicht.» Egal was Noah macht, er kommt auf keinen grünen Zweig bei seinen Prüfern. «Wenn ich etwas gemacht habe, was sie zuvor explizit im Seminar als gut angepriesen haben, war es bei mir auf einmal komplett falsch», erinnert er sich. Einer seiner Mentoren, also ein Lehrer, der jeden Tag mit ihm arbeitet, stärkt ihm regelmässig den Rücken, setzt sich für ihn ein. «Aber er hat irgendwann auch resigniert festgestellt: «Gegen die vom Seminar hast du keine Chance»», so Noah.

Die Frage warum man ihn systematisch «fertig macht», wie er es ausdrückt, beantwortet er mit der Landespolitik: «Damals wurden tausende Lehrerstellen gestrichen. Uns Referendaren war allen klar, dass wir uns wohl mehr oder minder in die Arbeitslosigkeit katapultieren, oder im besten Fall Zeitverträge bekommen, wenn wir das Examen schaffen», so Noah. Politisch hätte das laut seiner Aussage keine gute Figur gemacht. «Die Lösung: Man lässt einen gar nicht erst zum Zweiten Examen zu.» Dies geschieht, indem man ihm immer wieder die Fähigkeit «Lehrer zu sein» abspricht und durch diese schlechten Beurteilungen eine Zulassung zur Prüfung verhindert. «Ich kenne viele andere, mit denen man das Gleiche getan hat.»

Sucht man nach Statistiken, die diese Aussage belegen, findet man keine. Laut Noah hat das aber Methode: «Genau das ist ja auch der Sinn dahinter! Wir tauchen in keiner Statistik auf, weil wir nie wirklich Lehrer waren. Wir haben ja nie eine Prüfung gemacht.»

So kommt es, wie es kommen muss. Noah wird nicht zum Zweiten Examen zugelassen – und fällt in ein tiefes Loch.

«Das Gefühl wie auf einer Achterbahn – und dann endlich Ruhe»

«Ich erinnere mich noch gut auf die Heimfahrt, nachdem ich erfahren hatte, dass es für mich vorbei ist.» Er zieht nervös an einer Zigarette, seine Finger beben leicht, während er spricht. «Ich war leer – anders kann man es nicht beschreiben. Ich dachte: Schlimmer als jetzt kann ich mich nie wieder fühlen.» Aber es kommt schlimmer.

Noah ist eigentlich gut ausgebildet – aber ihm fehlt die Berufserfahrung – und er ist nicht auf die drohende Arbeitslosigkeit vorbereitet. «Ich habe mich wertlos gefühlt. Auf einmal flatterte mir ein Brief ins Haus, dass ich mich beim Arbeitsamt melden solle wegen meiner «Beruflichen Zukunft» - welche Zukunft denn, habe ich mir damals gedacht?»

Aus purer Verzweiflung nimmt er den nächstbesten Job an, den er bekommen kann. «Es war ein Job in einem Büro – nichts Spektakuläres und vor allem nichts, was mir wirklich Spass gemacht hat.» Er hängt noch an dem Traum, Lehrer zu werden. Jeden Tag recherchiert er nach Möglichkeiten, wieder seinen Traumjob zu bekommen - alles ohne Erfolg. «Ich habe fast jeden Tag einen neuen Grund gefunden, warum ich nicht mehr zurück kann.»

Die Arbeit, die er angenommen hat, wird dabei immer mehr zur Belastung. «Anfangs war ich einfach nur froh, nicht arbeitslos zu sein, aber im Laufe der Zeit bekam ich Schlafprobleme und Panikattacken, wenn ich an meinen Job dachte.» Wie er erzählt, hat er diese auch schon als Lehrer – aber ignoriert sie. «Das war wohl mit der grösste Fehler meines Lebens», erinnert er sich.

Noah bereut, dass er nicht früher Hilfe gesucht hatte. Bild: Pixabay

Es geht im psychisch immer schlechter, bis, wie er es ausdrückt, «gar nichts mehr geht.»

Es ist ein warmer Sommertag, als es soweit ist. «Ich wollte ein neues Studium anfangen, einfach, um doch nochmal in den Lehrerberuf zu kommen, aber merkte, dass das nicht machbar ist.» An diesem Abend kommt es zum Zusammenbruch bei Noah. «Ich sass auf meinem Balkon und habe nur geheult, bis ich mich entschlossen habe, dass ich nicht mehr weinen und stattdessen alles beenden will.» Er spricht diesen Satz aus, als spräche er davon eine neue Zahncreme auszuprobieren und nicht davon, sein eigenes Leben zu beenden.

«Ich knüpfte mir einen Strick mit dem festen Entschluss, mich aufzuhängen», erinnert er sich. «Ich dachte: das wird sein wie auf einer Achterbahn, wenn man es in die Tiefe geht. Einmal kurz runter – und dann Ruhe.»

Nach eigener Aussage sitzt er «stundenlang» mit dem Strick in der Hand dort. Während unserem Gespräch lacht er plötzlich auf: «Das absurde ist, dass mich letztlich mein Haustier davon abgehalten hat, mich umzubringen.» Auf die Frage, warum, antwortet er: «Wenn ich das gemacht hätte – wer hätte ihm dann am nächsten Tag Futter geben sollen? Meine Freundin? Die hätte da sicher andere Sorgen gehabt.»

Warum denkt er ausgerechnet an sowas? Er kann es nicht beantworten. «Ich hatte die feste Absicht, mich umzubringen. Dass mein Haustier im Endeffekt mich davon abhielt zeigt eigentlich für mich, wie verwirrt ich damals war.»

Dieser Moment ist für ihn jedoch auch ein Weckruf: Am nächsten Tag sucht er sich Hilfe.

«Wochenlang lag ich nur im Bett»

Bis diese anschlägt, dauert es allerdings. «Ich bekam von meinem Hausarzt sehr starke Medikamente verschrieben, die mir die Stimmung aufhellen sollten. Gebracht hat das lange nichts.» Noah zieht sich zurück, verlässt seine Wohnung so gut wie gar nicht mehr und verbringt die meiste Zeit im Bett mit der Decke über dem Kopf.

In dieser Zeit hört er oft Sätze wie: «Wenn du nur rumliegst, kannst du ja nicht gesund werden», oder «hast du schonmal probiert, einfach positiv zu denken?». «Blanker Hohn», sagt er dazu. «Ich war froh, wenn ich irgendwann die Kraft hatte, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen und mein Umfeld verlangte von mir, ich solle doch einfach mal wieder lachen.» So geht es lange Zeit. Die einzigen Mal, bei denen er aufsteht, ist wenn er zu seiner Psychologin geht. «Diese wollte mich in einer Klinik sehen – aber davor hatte ich Angst.» Rückblickend ist er sich nicht mehr sicher, ob das nicht damals die bessere Alternative gewesen wäre. «Ich glaube, es wäre alles etwas schneller gegangen – ausserdem wäre ich dann weg von meinem Umfeld gewesen, was mir auch geholfen hätte.»

Während seiner Depression wird ihm gekündigt, auch ein Grund, warum er heute seinen Namen nicht in einem Artikel lesen will. Sein Arbeitgeber ist genauso ungeduldig wie seine Familie. «Es muss jetzt mal was gehen», hört er immer wieder. «Ich hätte damals am liebsten gebrüllt: Wie denn?» Er fühlt sich kraft- und antriebslos.

Noah fühlte sich oft missverstanden von seinem Umfeld. Bild: Pixabay

Auch, weil er den Druck von allen Seiten nicht erträgt, beginnt er, «eine Maske zu tragen», wie er es nennt. «Ich habe all meine Kraft dafür aufgewandt so zu tun, als ginge es mir besser, einfach nur, damit man mich in Ruhe lässt.» Sein privates Umfeld ist in dieser Zeit sowieso eine der grössten Herausforderungen. «Ich spürte, wie sie unter mir und mit mir litten. Das machte die Sache noch schlimmer.» Auch, weil er immer wieder versucht sich zu verstecken, fällt er immer wieder zurück in depressive Phasen. «Hätte man mich machen lassen, nicht unter Druck gesetzt, wäre das wohl alles schneller gegangen.» Vorwürfe will er trotzdem keine machen. «Ich weiss, dass meine Familie, meine Freunde – alle es nur gut mit mir meinten. Aber eben: Es hat mir damals eher geschadet geholfen.»

Es dauert, bis er eine Besserung seines Gemütszustandes feststellt. «Irgendwann habe ich angefangen das zu tun, was mir früher gut tat. Habe wieder mit Sport angefangen, zumindest, wenn es ging.» Trotzdem fällt er immer wieder in ein Loch. «Meine Psychologin erklärte mir Mal, ich müsse mir meine Krankheit wie eine Wellenbewegung vorstellen. Es kann Momente geben, in denen es mir gut geht, nur um im nächsten Moment wieder abzustürzen. Ihr Ziel sei es, aus der Welle eine möglichst gerade Linie zu machen.»

Das geschieht, in dem  er mehrmals die Woche zu ihr geht, mit ihr spricht und sie ihm Perspektiven aufzeigt. Es dauert fast ein Jahr, in dem er zu fast nichts fähig ist, ehe er wieder lachen kann. Dann langsam, merkt er, dass die «Wellen» abflachen. «Ich hatte immer noch düstere Phasen – aber diese waren bei weitem nicht mehr so tief und schlimm wie zuvor.»

Die hat er auch noch heute, wie er sagt. «Ich habe aber gelernt, damit umzugehen – das verdanke ich meiner Psychologin.»

«Holt euch Hilfe!»

Was will er anderen Depressiven und ihren Angehörigen mitgeben? «Den Depressiven: Holt euch Hilfe! Alleine an den Haaren aus dem Dreck ziehen könnt ihr euch nicht.» Ausserdem sagt er rückblickend: «Eine Depression kommt nicht plötzlich. Sie kündigt sich lange im Voraus an. Desto früher man gegensteuert, desto eher kann man auch was bewegen. Bei mir war es fast zu spät.» Bei der Frage, was er Angehörigen raten würde, stockt er. «Denen möchte ich sagen, dass sie vor allem nachsichtig sein sollen – und vielleicht auch Hilfe holen.» Ein Depressiver könne nichts für seine Krankheit, aber «oft behandelt man einen, als wäre er alleine dran schuld.» Erst, als sein Umfeld eingesehen habe, dass man einfach aktzeptieren müsse, wie es ihm ging und aufhörte ihn zu drängen «habe ich angefangen mich wieder zu fangen.» Dabei macht er klar: «Das Leben mit einer Depression ist die Hölle – sowohl für den Kranken, als auch für die Menschen im Umfeld. Ich mache niemandem einen Vorwurf, der mich damals gedrängt hat.« Wichtig sei nur, dass man sich bewusst ist: «Man kann aus einer Depression wieder rauskommen.»

Noah hat es geschafft. Heute hat er einen neuen Job, weg vom Lehrerdasein und ist, nach eigener Aussage, zufrieden. «Es war ein langer Weg», sagt er. «Ich wünsche meinem ärgsten Feind nicht, dass er sowas durchmachen muss.»

Er lächelt leicht, greift nach einer Zigarette und zündet sie sich an. «Können wir jetzt das Thema wechseln? Bei dem Gerede wird man ja ganz depressiv!»

 

*Name der Redaktion bekannt

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