Sophies seltenes Leiden

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Sophie Wiesbauer mit ihrer Mutter Christine.Bild Stefan Kaiser/«Zuger Zeitung»

Die 17-jährige Sophie Wiesbauer hat eine seltene Stoffwechselerkrankung. In der ganzen Schweiz gibt es nur 13 weitere Fälle. Zuerst waren ihre Ärzte ratlos, nun gibt es immerhin eine Therapie.

Von Michel Burtscher

Als Sophie Wiesbauer auf die Welt kam, ahnten ihre Eltern nicht, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie schien gesund, war 4360 Gramm schwer und 51 Zentimeter gross, schlief von der ersten Nacht an durch. Als das Mädchen eineinhalb Jahre alt war, verletzte es sich beim Spielen an der Halswirbelsäule. Die Eltern brachten es zur Kinderärztin – und die wurde stutzig. Mit dem Wachstum ihrer Tochter stimme etwas nicht, sagte sie der Mutter und dem Vater.

Lange Zeit der Ungewissheit

Eine genaue Diagnose konnte ihnen die Ärztin aber nicht geben. Es folgte eine lange Zeit der Ungewissheit, die schwierig war für die Familie aus dem zugerischen Cham. Arztbesuch reihte sich an Arztbesuch, die Spezialisten machten Röntgenaufnahmen und andere Untersuchungen: zuerst in Luzern, dann in Zürich, dann folgte eine genetische Analyse in Hamburg. «Sophie war eine Musterpatientin», sagt ihre Mutter Christine. «Sie hat alles gemacht, was die Ärzte von ihr wollten.»

Ein Jahr dauerte es, bis die Diagnose zweifelsfrei feststand: Sophie Wiesbauer hat eine sehr seltene, angeborene und nicht heilbare Stoffwechselerkrankung mit dem umständlichen Namen Mucopolysaccharidosis Typ IVa oder kurz MPS4A. Diese gehört zu den sogenannten seltenen Krankheiten, nur gerade 13 weitere Fälle sind in der ganzen Schweiz bekannt. Die Betroffenen können ein lebensnotwendiges Enzym nicht bilden, das für den Abbau von Stoffwechselprodukten in den Körperzellen verantwortlich ist. Die nicht abgebauten Stoffwechselprodukte lagern sich in den Zellen ab und schädigen die Organe. Die Krankheit führt zu Skelettverformungen und Kleinwuchs, das Wachstum der Wirbelsäule ist stark behindert.

Jeden Mittwoch eine Infusion

Heute ist Sophie Wiesbauer 17 Jahre alt und sagt: «Bei mir sind auch Augen und Ohren betroffen.» Sie sitzt im Rollstuhl in der Wohnung der Familie und fügt an: «Darum brauche ich eine Brille und ein Hörgerät.» Rechts an ihrem Rollstuhl befindet sich ein Joystick, mit dem sie ihn steuern kann. Links ist an einer Halterung ihr Handy angebracht. Aus ihrem Arm ragt ein dünner Schlauch. Sie erhält an diesem Nachmittag eine Infusion wie jeden Mittwoch, während fünf Stunden. So bekommt sie das Enzym, das ihr Körper nicht selber produziert. Geheilt wird die Krankheit so nicht, aber deren Verlauf wird verlangsamt. Neben ihr sitzen ihre Mutter und eine diplomierte Pflegefachfrau. Diese ist bei jeder Behandlung mit dabei – zur Sicherheit, weil Sophie wegen des Medikaments eine allergische Reaktion bekommen könnte.

Familie und Ärzte ratlos

Bei den Ärzten ist das Fachwissen über seltene Krankheiten oft begrenzt, Therapien sind selten. Für Pharmafirmen lohnt es sich meist nicht, in die Forschung zu investieren, da es nur wenige potenzielle Patienten gibt. Das war am Anfang bei Sophie Wiesbauer nicht anders. «Die Behandlung bestand damals vor allem aus Massagen und Physiotherapie», erinnert sich ihre Mutter. Dass nicht nur die Familie selbst ratlos gewesen sei, sondern auch die meisten Ärzte, habe die Situation für sie umso schwieriger gemacht, sagt sie. Christine Wiesbauer hofft, dass die Situation für die Betroffenen besser wird, wenn das Nationale Konzept Seltene Krankheiten des Bundes umgesetzt ist (siehe Kasten). Damit sollen unter anderem Referenzzentren für Betroffene geschaffen werden. Die Ziele dieser Zentren sind eine möglichst schnelle Diagnose, die Minderung der Schwierigkeiten aufgrund der Seltenheit der Krankheit und eine optimale Versorgung der Patienten.

Therapie gefunden

Sophie Wiesbauer hatte Glück, für ihre Krankheit wurde eine Therapie gefunden: 2012 konnte sie in Mainz an einer Studie teilnehmen – mit Menschen aus ganz Europa, die unter der gleichen Krankheit leiden. Einige erhielten das Enzym, andere ein Placebo. «Ich erhielt das Enzym», sagt Sophie Wiesbauer. Und es half. Heute kann sie wieder besser sehen und hören, hat weniger Schmerzen und muss weniger Medikamente einnehmen. «Und ich wuchs wieder. Zehn Zentimeter in wenigen Jahren.» Ab 2014 musste sie für die Behandlung jede Woche ins Kantonsspital Zürich. «Das war zwar näher als Mainz, aber trotzdem noch nicht so komfortabel», sagt Sophie Wiesbauer. Seit vergangenem Dezember kann sie sich nun zu Hause behandeln lassen. «Darüber bin ich sehr froh», sagt sie. Es ist ein Fortschritt, den nicht alle Menschen mit einer seltenen Krankheit erleben.

«Die Ärzte kennen Risiken nicht»

Doch auch Sophie Wiesbauer und ihre Familie mussten Rückschläge hinnehmen: Dass die 17-Jährige im Rollstuhl sitzt, hat nur indirekt mit ihrer Krankheit zu tun. Im Jahr 2002, als sie knapp drei Jahre alt war, wurde sie operiert. Ziel war, ihre Wirbelsäule zu stützen. Doch es kam anders, die Operation verlief nicht wie geplant. «Seither bin ich querschnittsgelähmt», sagt Sophie Wiesbauer trocken. Die genaue Ursache dafür wurde nie gefunden. Ihre Mutter glaubt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der missglückten Operation und der seltenen Krankheit ihrer Tochter: «Die meisten Ärzte hatten noch nie eine Patientin mit dieser Krankheit, sie kennen die Risiken nicht.»

«Trotz allem privilegiert»

Das Leben der Familie verkomplizierte sich dadurch weiter. Sie zog vom Haus am See in eine rollstuhlgängige Wohnung, wo Sophie Wiesbauer auch heute noch mit ihren Eltern und ihrer 20-jährigen Schwester Valerie lebt. «Die Krankheit allein hätte doch gereicht. Warum die Querschnittslähmung auch noch sein musste, können wir nicht verstehen», sagt Christine Wiesbauer. Trotzdem hegt sie keinen Groll gegen die Ärzte. «Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.» Auch ihr Mann sagt: «Wir sind trotz allem privilegiert – vor allem im Vergleich mit Betroffenen in anderen Ländern.» Alfred Wiesbauer ist Zahnarzt, hat also medizinisches Vorwissen. Er sitzt zudem im Vorstand von Pro Raris, der Allianz Seltener Krankheiten Schweiz. «Es ist wichtig, dass wir eine starke Stimme haben und auf die Anliegen der Patienten und ihrer Angehörigen aufmerksam machen können», sagt er. Zudem sei der Kontakt mit anderen Betroffenen hilfreich. Seine Tochter stimmt ihm zu: «Der Kontakt zu anderen Menschen mit einer seltenen Krankheit ist wichtig für mich.»

Berufswunsch: Zeichnerin

Die Familie hat gelernt, mit der Situation zu leben. Es sei aber teilweise sehr belastend gewesen, zu wissen, dass Sophie unheilbar krank sei, sagt Alfred Wiesbauer und fügt an: «Die Betroffenen haben keine Angst vor dem Tod.» Seine Tochter nickt. Sie geht abgeklärt um mit ihrem Schicksal, erzählt freimütig, lacht viel. Den Lebensmut und die Lebensfreude hat sie nicht verloren.

Derzeit konzentriert sich Sophie Wiesbauer auf ihre Ausbildung: Im Sommer hat sie von der Spezialschule in die reguläre Oberstufe gewechselt und ist nun im letzten Jahr der Sekundarschule. Sie möchte Zeichnerin, Fachrichtung Architektur, werden. Momentan absolviert sie ein Praktikum in einem Architekturbüro. «Während meine Mitschüler Sport machen, arbeite ich dort», sagt Sophie Wiesbauer. «Der Beruf gefällt mir sehr gut.» Bald wartet bereits die nächste Herausforderung auf die junge Frau: Sie muss eine Lehrstelle finden.

 

Seltene Krankheiten: Das nationale Konzept des Bundes verzögert sich

Gemäss Angaben des Bundes sind in der Schweiz über 500 000 Menschen von einer seltenen Krankheit betroffen. Mehr als die Hälfte davon sind Kinder. Als selten gilt eine Krankheit dann, wenn sie fünf oder weniger Personen auf 10 000 Einwohner betrifft und wenn sie lebensbedrohlich oder chronisch invalidisierend ist. Oft fehlt es an Fachwissen und Therapien.

Um Betroffenen zu helfen, hat der Bund das Nationale Konzept Seltene Krankheiten ausgearbeitet und 2014 präsentiert. Bei der Umsetzung einzelner Massnahmen gibt es aber Verzögerungen, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gegenüber unserer Zeitung bestätigte. Das ursprüngliche Ziel war, alle Massnahmen bis Ende dieses Jahres umzusetzen. Das wird laut BAG jedoch nicht möglich sein. Konkret will der Bund Referenzzentren schaffen und die Kostenübernahme standardisieren lassen. Weiter soll eine Informationsplattform für Patienten und Angehörige er-stellt und die Forschung gefördert werden.

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