Was es heisst, schwerbehindert zu sein

Nebenwirkungen der Antibabypille haben bei Céline, einer jungen Frau aus Schaffhausen, zu schwersten Behinderungen geführt. Jetzt hat ihre Mutter ein Buch über das Schicksal ihrer Tochter veröffentlicht.
Von Franzika Bartel
Auf dem linken Foto steht ein bezauberndes Mädchen im schwarzen Kleid, strahlend wie die Blume, die es in seiner Hand hält. Rechts ist eine hilflose junge Frau im Rollstuhl abgelichtet. Es handelt sich dabei um ein und dieselbe Person: Céline. Aufmerksamkeit soll das Titelbild erregen, betont die Buchautorin. Jeder soll sofort sehen, worum es geht.
Als Tagebuch hatte das Ganze vor Jahren begonnen. Hinten in Célines Rollstuhl verstaut lagerten die Notizen, die sich auch die Grosseltern, Schwester Jennifer, der Vater und Freunde von ihren Eindrücke aus Célines Alltag machten. Später führte die Mutter Claudia Pfleger die Aufzeichnungen am Computer fort, bis ihr die Idee zu einem Buch kam. «Ich habe einfach aufgeschrieben, was mich bewegte», sagt Pfleger. Dabei habe sie alles Revue passieren lassen und gelernt, mit der Situation umzugehen. Die Tagebuchform behielt sie bei. In linearer, zeitlicher Abfolge und anhand ausgewählter Fotos schildert sie die dramatischen Stationen auf dem Weg ihrer damals 16-jährigen Tochter bis zum heutigen Tag.
Ein Kraftakt
Ihr Glaube, dass alles wieder gut werde, habe bis zur Diagnose gehalten, sagt Pfleger. Zuvor habe sie ihre Aufgaben schematisch wie ein Roboter verrichtet. Doch dann der Schock: Ihre Tochter würde infolge einer schweren beidseitigen Lungenembolie schwerstbehindert an den Rollstuhl gefesselt bleiben. Céline versteht alles, kann aber nicht mehr sprechen, sich pflegen oder selbständig genügend essen. Was bedeutet das für sie, die Betroffenen und das Umfeld?
Die Zeit der Rehabilitation beginnt, verbunden mit grossen körperlichen Strapazen und Schmerzen. Mehrfach erbricht Céline die künstliche Nahrung und droht daran zu ersticken, weil die Sonde verrutscht ist. Ihre Ängste kann sie kaum mitteilen. Nicht weniger schlimm sind die ständigen Trennungen. «Céline freute sich auf den Rest der Weihnachtsferien und schüttelte energisch und naserümpfend den Kopf, als sie hörte, dass sie danach wieder ins Wohnheim Zihlschlacht zurück müsste», schreibt Pfleger.
Generell werden die Ausflüge mit dem schweren Rollstuhl zu einem Kraftakt und zu einer organisatorischen Herausforderung, immer unterwegs mit den Medikamenten und der künstlichen Nahrung. Die vielen medizinischen Entscheidungen, der jahrelange erfolglose Prozess gegen den Pillenhersteller und die weiten Fahrten bringen Pfleger oftmals an ihre Grenzen. Dazu kommt der Kampf um einen nahen Heimplatz.
Kleine Fortschritte gemacht
2014 zieht Céline endlich ins «Lindli-Huus» ein, ein Wohnhaus für Körperbehinderte in Schaffhausen. Am Tag des Fototermins verfolgt sie das Tennisspiel zwischen Federer und Wawrinka. Sie fieberte wohl für Federer, sagt Pfleger und schmunzelt. Die Begrüssung erwidert Céline freundlich, mit einem sanften Händedruck und ihren Augen. «Sie hat zurück in ein neues Leben gefunden. Für mich ist sie die Heldin», betont Pfleger stolz. Zudem hat ihre Tochter inzwischen kleine Fortschritte gemacht. Sie kann nun am Tisch etwas essen und den Geschmack ihrer Speisen erleben. Sogar den Elektrorollstuhl steuert Céline für wenige Augenblicke selbst. Im Grossen und Ganzen wird ihr Zustand aber so bleiben, wie er ist. Deshalb sind alle sehr bemüht, ihr ein angenehmes soziales Umfeld zu bieten.
Céline ist nun angekommen und der Prozess beigelegt. Doch Pfleger wird kaum je abschliessen können. Ihr Anwalt riet ihr vor Jahren, an die Öffentlichkeit zu gehen. Damit habe die Aufklärungsarbeit begonnen. «Ich sah das als meine Pflicht an, andere zumindest zu warnen», so Pfleger. Viele junge Frauen würden sich in Sicherheit wiegen, weil sie nicht der auf dem Beipackzettel erwähnten Risikogruppe angehörten. Aber auch Céline habe nicht zur Risikogruppe gezählt. Den zahlreichen Rückmeldungen auf ihr Wirken entnehme sie, dass eine Sensibilisierung stattgefunden habe, sagt Pfleger. Mit ihrem Buch möchte sie ihre Aufklärungsarbeit weiter vorantreiben. Ihr liegt die bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema Verhütung am Herzen. Darüber hinaus möchte sie die in Deutschland betroffenen Frauen, die sich noch in einem laufenden Prozessverfahren befinden, motivieren. Für Céline sei es zu spät, aber nicht für viele andere Mädchen und Frauen.