Willis Orakel

Unser Kolumnist Walter Vogelsanger schreibt heute über Blicke in die Zukunft - und warum oft wenig an diesen dran ist.
Die An- und Einsichten unserer Kolumnisten publizieren wir gerne, weisen aber darauf hin, dass sie selbstverständlich nicht mit jenen der Redaktion übereinstimmen müssen.
Der Jahreswechsel liegt hinter uns. Die zahllosen Jahresrückblicke auch. Ich bin froh darüber. Rückblicke sind in der Regel langweilig. Spannender ist ein Blick in die Zukunft.
Prophezeiungen ziehen sich durch die ganze Geschichte der Menschheit. In der Bibel wimmelt es nur so von Propheten. Berühmt war das Orakel von Delphi im antiken Griechenland. Mit den Sprüchen der Priesterin Pythia im Apollon-Tempel wurde über 1000 Jahre lang Geschichte gemacht. Alexander der Grosse pilgerte 331 v. Chr. in die Oase Siwa in der libyschen Wüste, um das dortige Orakel zu befragen. Nach seinem Besuch sah er sich als Sohn der Götter und eroberte anschliessend weite Teile Asiens. Julius Cäsar war weniger gläubig. Hätte er im März 44 v. Chr. mehr auf die negativen Hinweise eines Zeichendeuters und auf seine Frau Calpurnia gehört, wäre er wahrscheinlich der fatalen Senatssitzung ferngeblieben und so den Dolchen seiner Gegner entgangen.
Nach wie vor beliebt ist der Astrologe Nostradamus (1503–1566) mit seinen Prophezeiungen. Ich habe mich bei seinen Interpreten im Hinblick auf 2019 schlaugemacht und einiges erfahren: Die Medizin macht grosse Fortschritte, ein Alter von 200 Jahren rückt näher. Es ereignen sich gewaltige Naturkatastrophen. Welche Überraschung! Ein Weltkrieg bricht aus und dauert 27 Jahre. Erfreulich ist, dass der Seher markante Erfolge im Kampf gegen den Klimawandel prophezeit. Erstaunlich, was der Mann im 16. Jahrhundert so alles wusste. Berüchtigt ist Wallensteins Astrologe Seni. Sehr viel hat er allerdings nicht getaugt. Die Ermordung seines Herrn im Jahr 1634 muss er glatt übersehen haben.
Die Zigeunerin in Südfrankreich
Enttäuscht bin ich persönlich von den zahlreichen Weltuntergangsprognosen der letzten Jahrzehnte. Davon ist keine eingetroffen. Oder ist mir da etwas entgangen? Irritiert erinnere ich mich an jene Zigeunerin, die mir vor 25 Jahren in Südfrankreich meine Zukunft voraussagen wollte. Ich lehnte dankend ab mit der Begründung, dass ich mich gerne überraschen lasse. Die Dame flippte aus und prophezeite mir unter freudigem Geschrei einer stattlichen Kinderschar alle Übel dieser Welt und ein nahes, unrühmliches Ende. Wären ihre Voraussagen eingetroffen, wäre ich längst zu Staub zerfallen.
Trotzdem: Ein wenig ist man neugierig auf die nahe Zukunft. Was soll man da machen? Das Orakel von Delphi wurde 391 n. Chr. abgeschafft, Siwa ist eine Ruine, und Nostradamus ist nicht über alle Zweifel erhaben. Er hat mich in seinen Prophezeiungen nicht einmal namentlich erwähnt.
Zum Glück habe ich noch meinen Kumpel Willi. Es ist eine bewährte Tradition, dass er mir jeweils zu Beginn eines neuen Jahres wortreich seine Visionen eröffnet. Das hat Vorteile. Willi ist politisch bis hinauf in den Bundesrat bestens vernetzt, liest jede Menge Zeitungen und ist von seinem prophetischen Talent voll und ganz überzeugt. Nach dem ersten Cognac legte er am letzten Stammtisch los. Einige seiner Voraussagen gebe ich gerne, allerdings ohne Gewähr, an die interessierte Leserschaft weiter. Also: Trump wird sich auch 2019 twitternd im Amte halten. Der Brexit kommt, die EU geht weiter den Bach hinunter (Formulierung Willi), und die Migrationsströme nehmen zu. Das Klima wird wärmer, da helfen auch keine Monsterkonferenzen. Hier widerspricht Willi keck dem Altmeister Nostradamus. Die Windräder im Chroobach werden abgeschmettert, neue, moderne und «saubere» Atomkraftwerke sind im Kommen …
Bei den eidgenössischen Wahlen ist alles geritzt. Die SVP behauptet sich, der Freisinn legt zu, SP und CVP verlieren, die BDP wird weggeputzt, und die Rot- und Grün-Grünen wachsen. Und was ist mit der Schaffhauser Delegation, lieber Willi? Mein Kumpel kennt keine Zweifel. Germann, Hurter, Munz und Minder marschieren durch. Auch meine Fragen nach der städtischen Politik bringen ihn nicht aus dem Konzept. Die Steuerfussreduktion werde abgelehnt, donnert er als namhafter Steuerzahler wütend. Und der Stadtrat wird sich weiterhin fetzen, was das Stimmvolk weniger, die Medien hingegen etwas mehr freut. Gemäss Willi bringen erst die nächsten Wahlen eine deutliche Verbesserung.
Und wirtschaftlich? Hier wird mein Kumpel emotional. Schliesslich besitzt er verschiedene Aktientitel, auch solche von wichtigen Schaffhauser Unternehmen. Es gehe wieder aufwärts, meint Willi mit düsterer Miene. Es müsse einfach, basta! Das nenne ich eine glaubwürdige Prognose. Aber sportlich kommt es gut. Die Fussball-Nati schafft die EM-Qualifikation, und der FC Schaffhausen hält sich im Mittelfeld der Challenge League. Nur der Stern von Federer beginnt zu sinken. Mehr Sport liegt bei Willi nicht drin.
Nach dem zweiten Cognac wird Willi oberflächlich. Immerhin: Es gibt einen weiteren Jahrhundertwein, im Randen wird der Luchs heimisch, und in einem Jahr sind wir beide ein Jahr älter. In meinem Fall allerdings kein bisschen weiser, orakelt Willi. Und jeden Morgen geht die Sonne wieder auf, mal früher und mal etwas später.
«Was kümmert mich ...»
Ich habe mir Willis Orakelsprüche nicht alle im Detail gemerkt. Trotzdem habe ich eine Liste angelegt. Die wird dann am kommenden Silvester konsultiert. Wo Willi richtig liegt, zahle ich eine Runde. Wenn er sich hingegen verhaut, hat er zu berappen. Ich bin sehr optimistisch. Es ergibt aber wenig Sinn, meinem Kumpel zu widersprechen. Das Schöne an Jahresprognosen ist sowieso, dass man sie am Ende des Jahres meistens vergessen hat. Persönlich halte ich mich in dieser Hinsicht an den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer: «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern …» Gerne verweise ich hier aber auch auf den zweiten Halbsatz des berühmten Adenauer-Zitates, der meistens unterschlagen wird: «… und nichts hindert mich, weiser zu werden.»
Das wäre immerhin ein guter Vorsatz für 2019!