Willi und die Patrioten

Vogelsanger meint...
Die An- und Einsichten unserer Kolumnisten publizieren wir gerne, weisen aber darauf hin, dass sie selbstverständlich nicht mit jenen der Redaktion übereinstimmen müssen.
Seit sich Kumpel Willi als Politiker versteht, gibt es am Stammtisch immer wieder saftige Diskussionen. Oft sind wir gleicher Meinung. Bei der No-Billag-Initiative jedoch nicht. Willi war ein lautstarker Gegner, ich gehörte zur jämmerlichen Minderheit der Verlierer. Ich sehe bis heute nicht ein, was das gigantische Medienmonster SRG zum Zusammenhalt der Schweiz beiträgt. Das stundenlange Radiogeschwätz zum Wetter nervt mich, und die tendenziösen und lückenhaften Informationssendungen habe ich satt. Fernseher habe ich sowieso keinen, muss aber ab 2019 dafür trotzdem Gebühren zahlen. Willi war empört. «Dir fehlt es am patriotischen Bewusstsein», polterte er. «Du hast keinen helvetischen Geist!» Er verwendete sogar die Uraltbeschimpfung vom vaterlandslosen Gesellen.
Das war starker Tobak! Ich – ein lausiger Patriot! Widerspruch war angesagt: «Lieber Willi, ich habe weit über 1000 Militärdiensttage auf dem Buckel. Das ist mehr, als die meisten Patrioten im Bundeshaus haben. Im Gegensatz zu den Helden der Fussball-Nationalmannschaft kann ich unsere Nationalhymne singen. Nicht schön, aber auswendig. Und natürlich esse ich sehr heimatverbunden. Zum Beispiel Fondue, Raclette, St. Galler Bratwürste, Zürcher Geschnetzeltes, Waadtländer Saucissons, Bündnerfleisch, Berner Platte sowie Greyerzer Käse, und dazu trinke ich gerne Schweizer Weine. Vorzugsweise jene aus dem Blauburgunderland. In den letzten Jahren habe ich mindestens zwölf vaterländische 1.-August-Reden gehalten, und ich besitze mehrere Schützenkränze vom eidgenössischen Feldschiessen. In meiner zarten Jugend glaubte ich sogar an Chancengleichheit in einer sozialen und gerechten Schweiz».
Das Wohl des Vaterlandes
Meinem Kumpel Willi nach dem ersten Cognac zu widersprechen, ist eine schlechte Idee. Da half auch mein Hinweis auf die Definition von Patriotismus wenig: Patriotismus heisst Vaterlandsliebe. Patrioten sind Menschen (also auch Frauen), denen das Wohl des Vaterlandes am Herzen liegt und die sich dafür einsetzen. Willi walzte mich rhetorisch trotzdem gnadenlos nieder. Gerade an meiner Vaterlandsliebe zweifle er. Ich fahre kein europäisches Auto, man hätte mich schon vor dem Lidl in Gailingen gesehen, und meine Kolumnen würden immer wieder subversive Elemente enthalten. Zudem fehle es mir offensichtlich am Respekt vor hohen Magistraten, ich versäume oft wichtige Abstimmungen und halte mich in den Ferien viel zu oft im Ausland auf. Vor allem in Deutschland, das sei besonders bedenklich. Er fasste sein Urteil zusammen: «Du bist patriotisch betrachtet eine Nullnummer.»
Ich bat Willi, mir ein paar echte Schweizer Patrioten zu nennen, um ihn geistig ein wenig zu fordern. Er nannte Wilhelm Tell, General Guisan und Winkelried. Das war mager. «Willi, gibt es auch lebende Patrioten in der Schweiz?» Kumpel Willi geriet in Verlegenheit. Schliesslich offerierte er Tennisstar Federer, Christoph Blocher, alt Bundesrat Ogi, Toni Brunner, Raumfahrer Nicollier und Swatch-Erfinder Hayek (der aber auch schon tot ist). Das war alles. Ich stellte ihm eigene Favoriten entgegen. Dazu gehören Henry Dufour, Heinrich Pestalozzi, Nikolaus von der Flüe sowie die Bundesräte Ritschard, Minger und AHV-Vater Tschudi. Lebende Patrioten fielen mir spontan keine ein. Zum grossen Ärger Willis schon gar keine Politiker. Bundesparlamentarier, die ihren Job in Bern mit lukrativen Mandaten garnieren – natürlich immer zum Wohle des Volkes –, sind für mich keine Patrioten. Und wenn sie Volksentscheide nicht umsetzen, schon gar nicht. Der erste Bundesrat, der öffentlich «Switzerland first» sagt, erhält von mir einen persönlichen Bundesrats-Bambi!
Willi erklärte mich zum hoffnungslosen Fall. «Hier hilft nur noch ein individuelles Patrioten-Aufbauprogramm», entschied er. Und dann legte er los: Er will mich zu seinem Bundesratsfreund schleppen. Der würde mir gehörig die Kappe waschen. Darauf bin ich wirklich gespannt. Mein Weinkeller wird einer strengen Prüfung unterzogen. Keine Ausländer mehr in Flaschen! Wenn mein Kumpel mich beim Einkaufen jenseits der Grenze erwischt, ist ein Runde Cognac fällig. Ich muss sofort Mitglied bei einem lokalen Schützenverein werden, ebenso bei einer Volkstanzgruppe. Eine volkstümliche Tracht würde mir sehr gut anstehen, wenn ich darin auf mein übliches blödes Grinsen verzichten würde, stellte Willi fest. In meinem Garten wird sofort eine Schweizer Fahne gehisst. Die nächsten Wanderferien gehen ins Berner Oberland. Zudem muss ich in die Neue Helvetische Gesellschaft eintreten. Und natürlich in Willis Partei. Mein Patrioten-Ausbildner kann sich sogar meine Kandidatur für eine untergeordnete Funktion vorstellen. Zu mehr reiche es bei mir halt nicht. Und ich bin zu einem Spiel der Schweizer Fussball-Nati aufgeboten. In einem T-Shirt mit Schweizerkreuz und einem Papierfähnchen. Das habe ich dann euphorisch zu schwenken und Hopp Schwiiz! zu rufen, verlangt Willi.
Vielleicht schafft er es trotzdem
Ich bin äusserst skeptisch. Aber vielleicht schafft er es trotzdem, aus mir einen halbwegs passablen Patrioten zu formen. Einfach ist das nicht. Es ist halt schwierig, patriotische Gefühle für ein Land zu entwickeln, dessen Umwelt nach wie vor systematisch zerstört wird (Wachstum über alles!), wo rechtsfreie Räume existieren und wo Parallelgesellschaften entstehen. Wo Volksentscheide souverän ignoriert werden, wo sich Korruption in höchsten Stellen der Politik und der Wirtschaft ausbreitet und wo Gesetze auf allen Ebenen umgangen werden. Und wo Gewalt gegen Polizei und Feuerwehr laufend zunimmt und oft toleriert wird. Oder wo zum Beispiel im Bildungswesen und in der Gesundheitspolitik langsam Zweiklassengesellschaften entstehen.
Nach dem dritten Cognac brachte ich nicht mehr die Kraft auf, mich energisch gegen Willis Helvetisierungsprogramm zu wehren. Ich bin schon froh, dass er unseren feinen französischen Stammtisch-Cognac aus patriotischen Gründen nicht durch einen Billigschnaps aus der Innerschweiz ersetzt!