Droht der Schweiz dieselbe gesellschaftliche Spaltung wie in den USA?

Till Burgherr (tbu) | 
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Die Mauer in Mexiko soll die Grenze schützen, doch sie polarisiert die Amerikaner in ihren Überzeugungen. Foto: Key / Charlie Riedel

Die zunehmende soziale Spaltung ist ein beunruhigendes Phänomen. Das zeigen die Wahlen in den USA. Gruppen, die sich isolieren, lassen sich auch in der Schweiz beobachten. Doch es gibt Hoffnung. Die viel kritisierte Generation Z macht vor, wie man aus seiner Blase ausbricht, sagt eine Soziologin.

Die Mauer an der Grenze zu Mexiko spaltet die Meinungen der Amerikanerinnen und Amerikaner. Demokraten halten sie für übertrieben und unmenschlich, Republikaner wollen das Land dadurch von der unkontrollierten Einwanderung schützen. Donald Trump begann mit dem Bau der Mauer, die mehrere Hundert Kilometer lang werden soll. US-Präsident Joe Biden versprach, den Mauerbau zu stoppen. Trotzdem musste er hinnehmen, dass letzten Oktober mit dem Bau eines neuen Abschnitts begonnen wurde. Da sich der Kongress weigerte, die 2019 gesprochenen Gelder anders einzusetzen, blieb dem Präsidenten keine andere Wahl.

Die Mauer an der Grenze kann auch als Symbol für die Spaltung der beiden politischen Lager in den USA verstanden werden. Die Fronten verhärten, die Gräben vertiefen sich. Demokraten und Republikaner gehen sich aus dem Weg wie nie zuvor, berichten Schaffhauser, die seit Jahrzehnten in den USA leben.

Diese subjektiven Sichtweisen werden von Andreas Wimmer, Professor für Soziologie und politische Philosophie, untermauert. Wimmer ist in Schaffhausen aufgewachsen und lehrt an der Columbia University in New York. Die politische Spaltung der amerikanischen Gesellschaft sei den Menschen sehr bewusst und werde von beiden Seiten oft beklagt, sagt er. «Als Ausdruck der Spaltung selbst wird die Schuld für den beklagenswerten Zustand meist der anderen Seite in die Schuhe geschoben.» Umfrageresultate würden zeigen, dass sich die Menschen zunehmend entlang politischer Linien selbst selektieren. Freundschaften und Bekanntschaften über politische Grenzen hinweg würden seltener. «Inzwischen hat auch die räumliche Segregation zugenommen, unter anderem, weil Menschen in Quartiere, Städte oder Regionen ziehen, wo ihre eigene politische Meinung vorherrscht.»

Trends und Entwicklungen, die in den USA stattfinden, erreichen Europa in der Regel mit einer gewissen Verzögerung. In den USA hat sich die soziale Ungleichheit beispielsweise schon vor 20 bis 30 Jahren stark ausgeprägt, ein Phänomen, das nun auch in Europa deutlicher wird. Dieses Problem spitzt sich auch in der Schweiz zu. Doch politisch ist man hierzulande breiter aufgestellt, es ist davon auszugehen, dass unser politisches System eine Spaltung in zwei Lager verunmöglicht oder zumindest bremst.

Dennoch scheint die Abneigung gegenüber politisch Andersdenkenden in der Schweiz seit einiger Zeit zuzunehmen. Die Wählerinnen und Wähler haben sich in den letzten Jahren weiter links und rechts des politischen Spektrums positioniert. Der Anteil derjenigen, die sich in der Mitte verorten, hat sich zwischen 1995 und 2019 halbiert, wie die Daten der Wahlstudie Selects der Universität Lausanne zeigen.

Gemäss dieser Studie ist die Polarisierung vor allem darauf zurückzuführen, dass die Wählerinnen und Wähler der SVP und der FDP bis 2019 stark nach rechts gerutscht sind. Thierry Burkhart, Präsident der FDP Schweiz, hielt Anfang Monat eine kämpferische Rede zum Wahlauftakt der FDP Schaffhausen. Kritisch merkte der Parteipräsident an, dass die FDP zu oft Kompromisse eingehe, ohne vorher eine klare Position zu vertreten. In der Wirtschaft sei man es gewohnt, nach Kompromissen zu ringen, aber als Partei verliere man so Wählerinnen und Wähler.

Polarisierung durch Rückzug in Echokammern

Wer polarisiert, wird gehört, das ist nichts Neues. Doch die sozialen Medien verstärken diesen Effekt. Die gesellschaftliche Polarisierung nehme zu, sagt Soziologie-Professorin Katja Rost, die an der Universität Zürich unterrichtet. «Speziell bei jungen Menschen ist die Tendenz zu beobachten, dass Frauen eher links und Männer eher rechts wählen.»

Extreme Sichtweisen würden ebenfalls zu einer Polarisierung und Spaltung führen. Dies sei in Meinungsumfragen messbar. Wie nachhaltig diese Entwicklung ist, sei aber unklar.

Die Coronapandemie habe ebenfalls ihre negativen Spuren hinterlassen. Verschwörungstheorien und ein Gefühl der Bevormundung durch den Staat hätten zugenommen. Menschen, die sich abgewandt hätten, seien auch heute noch schwierig zu erreichen, weil sie sich abkapseln, sagt Rost. «Ein zentrales Problem bleibt, dass Menschen in ihren Echokammern gefangen sind.» Algorithmen würden das Problem noch verstärken, weil sie individuell diese Themen in den Sozialen Medien vorschlagen, die den Nutzer oder die Nutzerin interessiert. Alternative Meinungen blieben so ungehört. «Bestätigung durch Likes und Zuspruch für provokative Aussagen sind weitere Verstärker für die Polarisierung.» Dies führe dazu, dass sich die Spirale immer weiter dreht und die Hemmschwellen für mehr Hass und Provokation sinken.

Es betrifft eine Minderheit

Trotz der Polarisierung in den sozialen Medien hat die allgemeine Toleranz gegenüber Andersdenkenden in der Gesellschaft zugenommen, sagt die Soziologin. Die extremen Sichtweisen in den sozialen Medien würden nicht die der Mehrheit der Bevölkerung in der Schweiz widerspiegeln. Forschungsergebnisse würden beispielsweise zeigen, dass Shitstorms von einer extremen Minderheit ausgehen.

Gegen die Isolation in der eigenen digitalen Blase gibt es laut Rost ein einfaches Mittel. Handyfreie Zeiten seien der Schlüssel. Was einfach klingt, ist in der Praxis eine Herausforderung. Am besten meistern würden sie Vertreter der viel kritisierten Generation Z. Damit sind Menschen gemeint, die zwischen Mitte der 1990er- und Anfang der 2010er-Jahre geboren wurden. «Während andere Generationen ihr Handy kaum aus der Hand legen, zeigt die Generation Z vermehrt Tendenzen zum Digital Detox», sagt Rost. Unter «Digital Detox» versteht man eine bewusste, zeitlich begrenzte Auszeit von digitalen Geräten und Medien, insbesondere von Smartphones, Computern und Tablets.

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