Der Bundesrat in Winterthur: «Machen Sie Selfies!»

Katrin Schregenberger | 
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Der Bundesrat hielt seine Sitzung gestern «extra muros» im Kunstmuseum Winterthur ab. Danach folgte das Bad in der Menge mit von Witzen gespickten Reden, Selfies und Gesundheitstipps.

Dass der Bundesrat gleich nach Winterthur kommt, kündigt sich über die Polizeipräsenz an. Beamte laufen die Zugperrons mit dem Spürhund ab, stehen in der Bahnhofsunterführung, patrouillieren auf der Stadthausstrasse. Winterthur ist bekanntlich eine links-alternativ geprägte Stadt, aber an diesem Tag sieht man auffällig viele Anzüge in den Gassen. Kurz vor neun kommt Bundespräsident Alain Berset an und tritt vor die Medien – auf dass sie die Bundesratsmitglieder beim Apéro mit der Bevölkerung nicht belagern mögen!

Das Medientreffen findet im Erweiterungsbau des Kunstmuseums Winterthur statt – und Bundespräsident Alain Berset steht buchstäblich in einem Kunstwerk. Es handelt sich um eine raumfüllende Installation des US-amerikanischen Künstlers Oscar Tuazon und besteht aus mehreren Holzrahmen. Sie sehen aus wie die behelfsmässige Trägerstruktur eines Hauses. Berset steht im Eingang. Die Installation heisst «Dad» und gibt den Eindruck , dass der Raum wackelt, während der Landesvater sagt: «Kultur ist wichtig, gerade in anspruchsvollen Zeiten. Sie gibt uns die Möglichkeit herauszufinden, wer wir sind und was uns verbindet.» Später wird er diesen Satz vor über hundert Winterthurerinnen und Winterthurer wiederholen.

18. Mal «extra muros»

Er sei schon einige Male in Winterthur gewesen, immer in Zusammenhang mit Kultur. Er würde hier im Museum am liebsten ungestört der Kunst frönen, sagt er weiter. Aber die Bundesratssitzung ruft. Es ist die 18. Sitzung, die die Landesregierung «extra muros», also nicht in Bern, abhält. 2012 beriet der Bundesrat in Schaffhausen, letztes Jahr in den Kantonen Genf und Graubünden. Bundespräsident Berset wählte die Kulturstadt Winterthur für die diesjährige Sitzung aus – wegen seiner Affinität zu Kunst.

Die Sitzung des Bundesrats findet im Kunsthaus statt, in einem Raum mit Holztäferung und einem Kamin aus rosarotem Marmor. Und während sich die Amtsträger über die Geschäfte beugen, spielt sich in Winterthur das normale Alltagsleben ab. Der Barista im beliebten «Zum Hinteren Hecht» weiss nichts davon, dass die Landesregierung in der Stadt ist – und es scheint ihn auch herzlich wenig zu interessieren. Vor dem Stadthaus, einem imposanten Bau Gottfried Sempers, werden derweil Festbänke, Lautsprecher und Rednerpult aufgestellt. Schon eine halbe Stunde vor dem Apéro finden sich die ersten ein, die den Bundesrat persönlich treffen wollen. Eine ältere Dame mit rot gefärbten Haaren, Winterthurerin seit der Grundschule, trinkt ein Glas Orangensaft während sie wartet. «Ich schaue viel Arena und jetzt bin ich neugierig, den Bundesrat einmal aus nächster Nähe zu erleben», sagt sie. Später wird sie ganz vorne stehen, wenn Alain Berset seine Rede hält.

Museumspässe für die Regierung

Der Kiesplatz mit Springbrunnen und angrenzendem Park füllt sich rasch, Eltern mit Kindern, Schüler und Lehrlinge sind darunter. Lernende der Stadt haben ihre Smartphones bereit. Ob er die Bundesratsmitglieder auf der Strasse erkennen würde? «Berset schon», sagt der 17-Jährige Winterthurer. Sonst habe er nicht viel mit Politik zu tun, mit der Klasse sei er aber mal in der Arena gewesen. «Wir wollen den Bundesrat mal in real life sehen», sagt er. Seine Freunde und er werden später versuchen, ein Selfie mit Alain Berset zu schiessen – für Instagram.

Kurz nach halb zwölf erscheint das Gremium auf dem Platz. Vor knapp einem Jahr feierte hier der FC Winterthur seinen Aufstieg in die Super League bis tief in die Nacht hinein, jetzt wartet das Publikum auf die Worte der höchsten Politiker des Landes – musikalisch untermalt vom Musikkollegium Winterthur. Während der Winterthurer Stadtpräsident Mike Künzle die Mitglieder der Landesregierung in allen Sprachen willkommen heisst und ihnen ein Kunstwerk der walisischen Künstlerin Bethan Huws sowie Museumspässe schenkt, geht das Leben auf der anderen Strassenseite unberührt weiter. Eine Mutter wartet mit dem Kinderwagen auf den Bus. Der Bundesrat interessiere sie «eher weniger», sagt sie.

«Wir sind glücklicherweise nicht too big to fail, sonst hätte uns der Bundesrat mutmasslich längstens mit der Stadt Zürich zwangsfusioniert.»

Martin Neukomm, Zürcher Regierungsrat

Vor dem Stadthaus spricht daraufhin auch der Zürcher Kantonsrat aus Winterthur, Martin Neukom. Er scheut sich nicht, den wunden Punkt Winterthurs humoristisch aufzugreifen. Es geht um die hohe Verschuldung der Stadt: «Kantonsräte von der Goldküste haben in einer Anfrage Winterthur schon als das Armenhaus an der Eulach bezeichnet», sagt er. Tatsächlich nehme Winterthur Geld aus dem kantonalen Finanzausgleich entgegen. Doch: «Wir sind zwar gross, aber glücklicherweise nicht too big to fail, sonst hätte uns der Bundesrat mutmasslich längstens mit der Stadt Zürich zwangsfusioniert.» Das Publikum lacht. Es lacht generell viel, denn die Redner platzieren Pointe nach Pointe.

Auch Alain Berset lässt sich nicht lumpen und nachdem er – wie auch seine Vorredner – ein paar Sätze zur grossen Bedeutung der Debattenkultur in der Schweiz verliert, schliesst er mit einer ironischen Klarstellung: «Wir im Bundesrat haben nichts, aber wirklich nichts, mit der Fusion der Bank von Winterthur und der Toggenburger Bank im Jahr 1912 zu tun, die später zur Gründung der UBS führte.» Das Publikum lacht wieder. «Damals waren wir noch nicht im Bundesrat. Ich war tatsächlich nicht im Bundesrat, ich wurde erst 2012 in den Bundesrat gewählt. Und wenn manche meinen, ich sässe schon 100 Jahre im Bundesrat, dann kann ich ihnen versichern, das ist nur ein Gefühl.» Applaus!

Selfies, Selfies, Selfies

Damit finden die Ansprachen einen Schlusspunkt und Berset selber fordert die Winterthurerinnen und Winterthurer auf: «Machen Sie Selfies!». Das lassen sich die digital Affinen nicht zweimal sagen. Trauben bilden sich um die Bundesrätinnen und Bundesräte, nicht jeder ist gleich beliebt oder fotogen, Berset scheint jener Bundesrat zu sein, der am meisten Glamour verströmt.

Zwischen den Selfies ergeben sich Gespräche, Guy Parmelin trifft auf einen diskussionsfreudigen Winterthurer, der mit ihm über die Haltung der Schweiz bezüglich des Ukraine-Kriegs diskutiert. Ignazio Cassis wird gefragt, wie er das denn mache als Bundesrat mit seiner Gesundheit. Das sei tatsächlich ein Problem, antwortet dieser, er jogge nicht mehr so viel, wie er sollte, habe Gewicht angesetzt. Der Tessiner räumt zugleich ein: Es sei eine unglaubliche Zeit, es habe wohl kaum einen Bundesrat gegeben, der drei Krisen nacheinander habe meistern müssen. Karin Keller-Sutter lernt derweil eine Winterthurer Stadtratskandidatin kennen, die sie um einen Rat bittet: «Durchhalten», sagt Keller-Sutter. Dann kapert sie ein junger Schüler mit grell-pinken Haaren für ein Selfie. «Ich wollte mit ihr ein Bild machen, weil ich bei den Jungfreisinnigen bin», sagt er später. So geht es eine Dreiviertelstunde, die Regierungsmitglieder drehen sich um die eigene Achse, schütteln Hand um Hand, sehen Gesicht um Gesicht. «Das geht schon nur bei uns in der Schweiz, dass man so eng Kontakt hat mit den Politikern», konstatiert ein Mann in der Menge zu einer Frau mit Kindern.

Dann, kurz nach halb eins, machen sich die Bundesratsmitglieder auf den Weg zum Mittagessen mit dem Stadt- und Regierungsrat. Sie laufen ganz einfach die Stadthausstrasse hinunter, begleitet von ihrer Entourage. Als Ignazio Cassis an der Bushaltestelle vorbei geht, grüsst er freundlich die dort Wartenden. Diese schauen dem Umzug der Politikgrössen verdutzt nach.

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