«Das ist eine Tragödie für beide Völker»

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Jeronim Perović, Osteuropa-Experte der Universität Zürich, spricht im Interview über russische Fehleinschätzungen und erklärt, warum er nicht daran glaubt, dass sich in Russland Opposition formieren wird.

von Mark Liebenberg und Rico Steinemann

Die Medien reissen sich mo­mentan um den Schaffhauser Historiker Jeronim Perović. Seine Einschätzung der Lage in der Ukraine ist gefragt, ­Perović ist wissenschaftlicher Direktor des Center for Eastern European Studies an der Universität Zürich und ein ausgewiesener Russland-Experte. Er hat während zwei Jahren in Russland gelebt.

Herr Perović, am Donnerstag vor einer Woche kam es zum russischen Angriff auf die Ukraine. Wo stehen wir jetzt?

Jeronim Perović: Die Kämpfe intensivieren sich. Russland hat die ursprünglichen Ziele nicht erreicht. Die Vorstellung war, dass man die ukrainische Armee mit relativ wenig Einsatz in zwei bis drei Tagen niederringen und die Regierung stürzen kann. Das alles ist nicht eingetroffen, nun rücken immer mehr Teile der russischen Armee vor. Ein längerer Krieg scheint nun wahrscheinlich.

Wie kam es zu dieser Fehleinschätzung der Lage auf russischer Seite?

Ursprünglich wollte Russland diesen Krieg gar nicht. Auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Truppenaufmärsche an der Grenze. Das waren politische Signale, um ein politisches Ziel zu erreichen. Die Ukraine sollte im russischen Einflussbereich bleiben, sich für neutral er­klären und nicht Nato-Mitglied werden. Russland hat aber mit dem letzten Truppenaufmarsch auch klargemacht, dass sie von diesen Forderungen nicht abrücken. Eine Grossmacht kann sich nicht einfach zurückziehen. Dass etwas passiert, nachdem der Westen nicht auf die Forderungen Russlands eingegangen ist, damit musste man rechnen. Wie genau die russische ­Armee dabei vorgehen würde, wusste man allerdings nicht.

 Jeronim Perović
«Den Widerstandswillen und die Moral der ukrainischen Bevölkerung hat Putin völlig unterschätzt»
Jeronim Perović, Osteuropa-Experte

Was sind jetzt realistische Szenarien für die weitere Entwicklung des Krieges?

Man muss davon ausgehen, dass Russland die ganze Ukraine kontrollieren möchte. Die Frage ist, wie sie das machen wollen. In der 20-jährigen Herrschaft Putins haben sie verschiedene Sachen probiert: wirtschaftlicher und politischer Druck, Anreize in Form grosser Kredite, 2014 die Annexion der Krim und das Schüren von Unruhe im Donbass. Das alles verlief nicht nach Wunsch des Kremls. Das Ziel war immer, die Ukraine näher in ­Richtung Russland zu bringen. Russland will sich mit freundlichen Staaten umgeben, die keine Nato-Mitglieder sind. Sie ­haben, abgesehen von Weissrussland, Armenien, und Kasachstan, wenig Alliierte. Die Ukraine war während Sowjet-Zeiten sehr wichtig und bleibt im Verständnis von Russland ein Brudervolk, das ein untrennbarer Teil einer grösseren russischen Welt ist. So sieht es zumindest Putin.

Was sind die historischen und kulturellen Implikationen des Krieges für die Region?

Das ist eine Tragödie für beide Völker. Sie unterhalten familiäre Beziehungen sowie Wirtschafts- und Handelsbeziehungen über die Grenze hinweg. Das wird nun nachhaltig – möglicherweise für Jahrzehnte – zerrüttet. Dafür ist die russische Politik verantwortlich. Historisch gesehen sind Russen und Ukrainer ein Brudervolk, aber die Ukraine hat sich in den letzten 30 Jahren als unabhängiger Staat entwickelt. Die Nation Ukraine, die es vorher in dieser konsolidierten Form nicht gab, ist jetzt am Entstehen, und das vor unseren Augen. Alle Ukrainer – auch russisch sprechende und ethnische Russen, die in der Ukraine leben – sind Staatsbürger der Ukraine. Den Widerstandswillen und die Moral der ukrainischen Bevölkerung hat Putin völlig unterschätzt.

Putin wurde vom kühlen Taktierer und kalten Krieger plötzlich zum heissen ­Krieger. Warum hat sich der Westen so in ihm getäuscht?

Russland hat es geschafft, sich über eine geschickte Politik eine Machtposition auch im post-sowjetischen Raum zu sichern. Seine Beziehungen zu den ehemaligen Sowjet-Republiken hat es gestärkt. Aber die Ukraine war stets ein Problem. Dort hat es nicht funktioniert. Der Krieg ist ein Risiko für ihn, und das wusste er. Aber er will als derjenige in die Geschichte eingehen, der die Ukraine wieder heimführt in den russischen Orbit. Und der Faktor Zeit spielte dabei eine entscheidende Rolle. Das hat Putin mehrmals gesagt. Die Sanktionen, auch wenn sie Jahre dauern, nimmt er für sein Ziel in Kauf. Putin muss diesen Krieg um jeden Preis gewinnen. Eine Niederlage wäre sein politischer Tod.

Russland wurde unter Putin stets autokratischer. Sie haben selber zwei Jahre in Russland gelebt und kennen viele Russen. Formiert sich eine Opposition?

Das Russland, das ich in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren kennenlernte, ist nicht mehr zu vergleichen mit dem heutigen Russland. Es war sehr dynamisch damals, alles Mögliche ist passiert, nicht nur Gutes. Es gab einen sozialen und wirtschaftlichen Niedergang. Aber es herrschte eine Aufbruchstimmung. Es hatte verschiedene politische Parteien, verschiedene Meinungen, und man konnte schreiben und sagen, was man wollte. Heute ist das nicht mehr so, die Opposition wurde total zerschlagen. Ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass irgendein Umbruch in Russland von der Gesellschaft aus kommt. Man kann hoffen, dass Millionen auf die Strasse gehen und protestieren. Aber das ist sehr gefährlich. Das Regime würde mit grosser Härte dagegen vorgehen.

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