SP übt leise Selbstkritik am Europakurs

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Chantal Galladé erhielt bei ihrer Verabschiedung aus dem Nationalrat Applaus von der SP-Fraktion. Bild: Key

Weil die SP nicht eindeutig hinter dem Rahmenvertrag mit der EU steht, kehrt Chantal Galladé den Sozialdemokraten den Rücken und wechselt zu den Grünliberalen. Die ehemalige Zürcher Nationalrätin trifft damit einen wunden Punkt.

von Doris Kleck und Tobias Bär

Die schwierige Beziehung endete am Dienstagabend mit einem Knall: Nach 30 Jahren gab Chantal Galladé ihren Austritt aus der SP bekannt. Die Winterthurerin informierte die Parteileitung des Kanton Zürichs 15 Minuten bevor die Meldung beim «Tages-Anzeiger» online ging. Die Parteigranden erfuhren aus der Zeitung von Galladés Adieu. Und, was sie besonders schmerzte, dem Beitritt zu den Grünliberalen.

Galladé ist nicht irgendwer. Die 46-Jährige gehörte zu den Aushängeschildern der Sozialdemokraten. Sie politisierte am rechten Rand der Partei. Ihr Steckenpferd: die Sicherheitspolitik. Mit 30 Jahren wurde Galladé in den Nationalrat gewählt, diesem gehörte sie bis im letzten Dezember an. Zuvor wurde sie zur Schulpräsidentin des Kreises Winterthur-Töss gewählt. Vom Bundeshaus zurück in die Lokalpolitik. Manche werteten dies als Abstieg. Doch Galladé hatte nicht viele Optionen. Die SP Zürich kennt eine Amtszeitbeschränkung für Nationalräte. Die zwei SP-Sitze in der Kantonsregierung sind vergeben, zudem unterlag Galladé 2014 in einer parteiinternen Ausmarchung für dieses Amt Jacqueline Fehr.

Galladé eine Opportunistin?

Das Schulpräsidium, mit 160 000 Franken vergütet, war für Galladé ein Glücksfall. Die SP Schweiz hielt gestern in einer Mitteilung fest: «Dass sie der Partei gerade jetzt den Rücken kehrt, ist besonders für alle Mitglieder der SP Winterthur, die sich noch vor wenigen Monaten mit Herzblut für eine Wahl von Chantal Galladé in das wichtige Amt der Schulpflegepräsidentin eingesetzt haben, eine herbe Enttäuschung.» Die Formulierung kaschiert den Vorwurf des Opportunismus mehr schlecht als recht. Die Genossen sind sauer. Zumal in diesen Tagen die Unterlagen für die kantonalen Wahlen von Ende März verschickt wurden. Der Zeitpunkt der Ankündigung sei nicht «nett», sagt Priska Seiler Graf, Co-Präsidentin der SP Zürich und Nationalrätin. Andere ehemalige Parteikollegen schimpfen unter dem Deckmantel der Anonymität, Galladé wolle der SP maximal schaden. Sie kritisieren den Zeitpunkt, aber auch den offensiven Übertritt zu den Grünliberalen.

Im «Tages-Anzeiger» begründete die 46-Jährige: «Die GLP ist die Partei, die für das Rahmenabkommen eintritt und damit für eine vernünftige Beziehung zu Europa steht.» Die GLP arbeite «lösungsorientiert und faktenbasiert, nicht ideologisch und mit Scheuklappen». Das sind keine netten Abschiedsworte an die ehemaligen Kolleginnen und Kollegen der SP. Das Fass zum Überlaufen gebracht habe die abwehrende Haltung der Gewerkschaften und in deren Schlepptau der SP gegen den Rahmenvertrag mit der EU, so Galladé weiter. Sie möchte in der GLP eine Heimat schaffen für all die vielen Sozialliberalen, die lange keine Heimat hatten.

Die SP Schweiz äussert offiziell ihr Bedauern und fügt an: «In ihren 15 Jahren in der SP-Fraktion im Nationalrat hat Chantal Galladé nie den Eindruck erweckt, sich in der SP grundsätzlich nicht wohl zu fühlen.» Natürlich, Galladé gehörte dem Reformflügel der Partei an, das war bekannt. Anders als etwa der Zürcher Ständerat Daniel Jositsch habe sie sich parteiintern aber kaum in die Diskussionen eingebracht, kritisieren die Genossen. Und zur Europapolitik schon gar nicht. Priska Seiler Graf sagt offen: «Den Austrittsgrund kann ich nicht nachvollziehen.» Die SP stehe hinter dem Rahmenabkommen, aber der Lohnschutz müsse garantiert sein. «Dieses ‹Ja, aber› ist nicht richtig angekommen», sagt Seiler. Und fügt an: «Der SP Schweiz gelang es offenbar nicht, diese Haltung klar zu kommunizieren.»

In Seilers Worte schwingt ein Hauch von Selbstkritik mit. Selbst SP-Co-Generalsekretär Michael Sorg sagt: «Die Haltung, dass wir im Grundsatz zum Rahmenabkommen stehen, haben wir womöglich zu wenig klar kommuniziert.» Um anzufügen: «Die SP lehnt das Rahmenabkommen nicht ab. Sie sagt Ja zum Rahmenabkommen aber auch Ja zum Lohnschutz. Mit dem vorliegenden Entwurf werden diese Ziele jedoch nicht erreicht.» Alles nur ein kommunikatives Missverständnis also? Dass der Berner SP-Nationalrat Corrado Pardini an der Seite von Christoph Blocher in der «Arena» des Schweizer Fernsehens auftritt, um gegen das Rahmenabkommen zu wettern? Dass SP-Präsident Christian Levrat am letzten Parteitag in Olten diejenigen als «politische Hasardeure» beschimpfte, «die bereit sind, die Lohnschutzmassnahmen zu opfern», und damit auch Parteikollegen mitmeinte?

Verwirrte Parteimitglieder

Daniel Jositsch sagte gestern der NZZ, es gebe klare Indizien dafür, dass die Basis Probleme mit dem aktuellen europapolitischen Kurs der Partei habe: «Dieser Wechsel in der Europapolitik verstört jegliche Proeuropäer, ich höre laufend: ‹Macht endlich was für das Rahmenabkommen.›» Seiler Graf gibt zu: «Wir mussten feststellen, dass viele unserer Leute verunsichert sind, was die Haltung der SP zum Rahmenabkommen anbelangt.» Als Reaktion haben europafreundliche Genossen deshalb die Plattform «liens-europe» gegründet. Zu ihnen gehört Nationalrat Fabian Molina. Er stellt fest: «Es gibt Mitglieder, die sich über das gegenwärtige Aussenbild der SP-Europapolitik aufregen.» Der Zürcher begegnet dem Rahmenabkommen positiv. Er glaubt, dass das Lohnschutzniveau erhalten bleiben könne, ohne nachzuverhandeln: «Das sollte über zusätzliche Gespräche und Erklärungen sowie innenpolitische Massnahmen möglich sein», sagt Molina.

Am 11. März hört Aussenminister Ignazio Cassis die Parteien zum Rahmenabkommen an. Bis Ende März müssen diese ihre Meinung offiziell kundtun. Galladé hat mit ihrem Austritt einen wunden Punkt getroffen. Das Ringen der SP um eine Haltung beim Rahmenabkommen hat erst begonnen.

Rechtsgutachten zum Rahmenabkommen

Die Wirtschaftskommission des Nationalrats hat gestern die Rechtsgutachten veröffentlicht, welche sie zum Institutionellen Abkommen mit der EU (Insta) erstellen liess. Eines davon zeigt auf, welche flankierenden Massnahmen weiterhin zulässig wären. Demnach sind die Schweizer Vorschriften zu den minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen mit dem Insta und dem ­EU-Recht vereinbar. Das gleiche gilt für die solidarische Haftung des Erstunternehmers und die Dokumentationspflicht für Selbständige, die im Insta ausdrücklich vorgesehen ist. Zulässig blieben auch die Kontrollen durch paritätische oder tripartite Kontrollorgane und eine verhältnismässige Kostenbeteiligung.

Nicht mehr erlaubt wären hingegen die Sperren für fehlbare Unternehmen. Diese Sanktion dürfte gemäss dem Gutachten vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) als diskriminierend beurteilt werden. Die heute geltende Kautionspflicht und die Voranmeldefrist müsste den Vorschriften des Insta angepasst werden. Die Voranmeldefrist ist dem Gutachten zufolge aber ohnehin unvereinbar mit dem Freizügigkeitsabkommen. Diese und die Kautionspflicht müssten sofort nach Inkrafttreten des Insta aufgehoben werden, die Dienstleistungssperren nach Ablauf der dreijährigen Umsetzungsfrist. Die übrigen flankierenden Massnahmen könnte die Schweiz – unter Vorbehalt neuen EU-Rechts – weiterführen. Voraussetzung ist, dass sie verhältnismässig sind. Darüber urteilt unter Umständen der EuGH.

In einem weiteren Gutachten wird der im Insta vorgesehene ­Mechanismus zur Streitbeilegung untersucht. Fazit: Die Schiedsgerichtslösung ist nicht zum Vorteil der Schweiz. (sda)

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