Zahlenwirrwarr um Härtefallklausel

Jeder zweite Fall ein Härtefall: Das zumindest legen Zahlen des Bundes zum Thema Landesverweisung nahe. Für den Kanton Schaffhausen sind diese jedoch offensichtlich falsch.
Die vorgestern veröffentlichten Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) waren Wasser auf die Mühlen der SVP: In jedem zweiten Fall, der eine obligatorische Landesverweisung zur Folge hätte, verzichtet die Justiz darauf (SN von gestern). Die SVP reagierte entsprechend scharf. Die Härtefallklausel öffne Tür und Tor, um Ausschaffungen zu umgehen. Aus diesem Grund hatte die Partei die Durchsetzungs-Initiative lanciert, die einen Ausweisungsautomatismus in die Verfassung schreiben wollte. An der Urne scheiterte das Anliegen dann deutlich.
Jetzt zeigt sich: Die Zahlen des BFS stimmen nicht mit den Zahlen mehrerer Kantone überein, wie eine Umfrage der SN ergab. Es stimmt nicht, dass bei jedem zweiten Fall die Härtefallklausel zur Anwendung kommt. Nehmen wir das Beispiel des Kantons Schaffhausen. Laut BFS-Zahlen kam es im Jahr 2017 in Schaffhausen zu sechs Verurteilungen aufgrund von Straftaten nach Artikel 66a des Strafgesetzbuches. Dieser listet die Delikte auf, worauf jemand des Landes verwiesen wird. Von den sechs Verurteilungen soll laut BFS-Statistik nur eine Person tatsächlich des Landes verwiesen worden sein, bei den fünf andern Fällen griff die Härtefallklausel.
«Am Schaffhauser Kantonsgericht wurde bisher in keinem einzigen Fall die Härtefallklausel angewendet.»
Markus Kübler, Präsident Kantonsgericht Schaffhausen
Nur: «Ich weiss nicht, wie das BFS zu seinen Zahlen gekommen ist. Für den Kanton Schaffhausen sind sie ganz offensichtlich falsch», sagt der Erste Staatsanwalt des Kantons Schaffhausen, Peter Sticher. «Es sind 18 Anklagen, in welchen wir eine Landesverweisung beantragt haben. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen hat seit dem 1. Oktober 2016 aufgrund der Härtefallklausel viermal in einem Strafbefehl auf eine Landesverweisung verzichtet.»
Dazu muss man wissen: Die Staatsanwaltschaft kann keine Landesverweisung aussprechen, das kann nur das Gericht. Aber sie kann die Härtefallklausel anrufen, und darauf verzichten, eine Landesverweisung zu sprechen.
Härtefallklausel noch nie angewendet
Beim Schaffhauser Kantonsgericht heisst es dazu: «Von Oktober 2016 bis Mai 2018 wurden 16 erstinstanzliche Urteile mit Antrag der Staatsanwaltschaft auf Landesverweisung gefällt. Davon wurden 15 Landesverweise ausgesprochen», sagt dessen Präsident Markus Kübler. Ein Landesverweisung wurde nicht ausgesprochen. Allerdings bezog sich das Gericht dabei nicht auf die Härtefallklausel, sondern die Voraussetzung für eine Landesverweisung war nach dem Urteilsspruch nicht gegeben. «Fazit: Am Schaffhauser Kantonsge- richt wurde bisher in keinem einzigen Fall die Härtefallklausel angewendet.»
Auch im Kanton St. Gallen stimmt die BFS-Statistik nicht mit den Zahlen des Kantons überein. «Das Gericht hat 40 rechtskräftige Urteile mit obligatorischer Landesverweisung gesprochen. Davon wurde bei vier Fällen die Härtefallklausel angewendet», sagt eine Sprecherin der St. Galler Staatsanwaltschaft. Beim BFS ist von 58 Fällen die Rede, wo- von 25 keine Landesverweisung bekamen, 33 schon. Weitere Nichtübereinstimmungen gibt es mindestens auch in den Kantonen Zürich und Basel-Stadt.
BFS spricht von Interpretationsfrage
Beim BFS heisst es dazu auf Anfrage: «Die publizierten Daten basieren auf einer wörtlichen Interpretation des Artikels 66a im Strafgesetzbuch. Dabei wurden alle Betrugsdelikte berücksichtigt», sagt ein Sprecher. Orientiere man sich bei der Interpretation an der Botschaft des Bundesrates, beschränke sich die Katalogstraftat des einfachen Betrugstatbestand, die zu einer obligatorischen Landesverweisung führt, auf diejenigen, die im Bereich der Sozialhilfe, der Sozialversicherungen und der öffentlich-rechtlichen Abgaben begangen wurden. «Das BFS wird die bereits publizierten Daten beibehalten, wird aber zusätzlich eine Tabelle mit Zahlen gemäss dieser Interpretation publizieren.»
Wann die Klausel greift und wann nicht
Doch wann genau greift eine Härtefallklausel überhaupt? Dazu ein Beispiel aus Schaffhausen: Ein Italiener, der in Schaffhausen wohnt und Sozialhilfe bezieht, hat der Sozialhilfebehörde eine Einnahme von rund 500 Franken nicht angegeben. Er wäre verpflichtet gewesen, diese Summe zu melden. Somit hätte er weniger Sozialhilfe zugut gehabt. Er wies eine nicht einschlägige Vorstrafe auf. «In diesem Fall handelt es sich klarerweise nicht um ein Delikt, welches eine Landesverweisung von mindestens fünf Jahren gerechtfertigt hätte», sagt dazu Staatsanwalt Sticher. Die beschuldigte Person sei schliesslich wegen unrechtmässigen Bezugs von Leistungen der Sozialhilfe zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse verurteilt worden
Und wann wird jemand des Landes verwiesen? Dazu sagt Kübler vom Schaffhauser Obergericht: «Am letzten Freitag wurde ein erstinstanzliches Urteil mit Landesverweisung für fünf Jahre eröffnet. Dabei handelt es sich um einen serbischen Staatsangehörigen, der in der Schweiz aufgewachsen ist und die Niederlassungsbewilligung C hat.» Er hat gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen und war mehrfach vorbestraft. Entscheide über eine Landesverweisung gegenüber solchen Personen seien immer menschlich schwierige Entscheide. «Das Gericht hat hier die öffentlichen Interessen an der Wegweisung klar stärker gewichtet als die privaten Interessen des Beschuldigten am Verbleib in der Schweiz.»
Von den 16 Fällen handelte es sich laut Kübler bei etwa der Hälfte um Kriminaltouristen. «Diese Personen stammen meist aus Osteuropa oder dem Balkan und haben sich entweder des bandenmässigen oder des gewerbsmässigen Diebstahls schuldig gemacht.» Ein weiterer Schwerpunkt seien Drogenkuriere, die an der Grenze abgefangen werden. Von den 16 des Landes verwiesenen Personen dürften laut Kübler inzwischen mindestens zwei Drittel nicht mehr in der Schweiz sein.