Die zweite Flucht

Fast 9000 Asylbewerber sind 2016 abgetaucht, ohne den Asylentscheid des Staatssekretariats für Migration abzuwarten. Dort vermutet man, dass die meisten die Schweiz verlassen haben.
von Dominic Wirth
Jedes Jahr verliert der Bund Tausende Asylbewerber aus den Augen. So hoch wie im letzten Jahr war die Zahl aber schon seit Langem nicht mehr. Fast 9000 Asylbewerber sind 2016 untergetaucht. Sie erscheinen in der Asylstatistik, diesem Zahlenwust, in einer einzigen Zeile. «Unkontrollierte Abreisen» steht da. Hinter dem abstrakten Begriff verbergen sich Flüchtlinge, von denen die Behörden nicht wissen, wo sie sich aufhalten. Sie haben in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt, sind dann aber von der Bildfläche verschwunden, bevor das Staatssekretariat für Migration (SEM) einen Entscheid fällte.
8943 Asylbewerber sind 2016 untergetaucht. Das ist im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung um 67 Prozent. Die grosse Mehrheit – fast 7000 – kommt aus Afrika, wobei die meisten Flüchtlinge aus Eritrea, Gambia und Nigeria stammen. In den letzten Jahren war die Zahl der unkontrollierten Abreisen deutlich tiefer. 2008 etwa sind nur 3400 Fälle verzeichnet.
Wo sich diese Menschen aufhalten, weiss das SEM nicht. Allerdings geht man beim Bund davon aus, dass «die meisten Personen, die irregulär aus dem Asylprozess in der Schweiz austreten, das Land verlassen». Das schreibt das SEM auf Anfrage. Es stützt sich dabei auf zwei Statistiken: jene der Illegalen, die in der Schweiz aufgegriffen werden. Und jene der Sans-Papiers. Beide, so das SEM, seien stabil.
Asylzentren sind nicht geschlossen
Im letzten Jahr hat das SEM verschiedene Massnahmen ergriffen, um die unkontrollierten Abreisen in den Griff zu bekommen. So werden Asylsuchende nun öfter mit Bussen statt mit dem öffentlichen Verkehr befördert, wenn sie vom einen Asylzentrum des Bundes in ein anderes gelangen müssen. Das soll die Fluchtgefahr verkleinern. Daneben setzen die Behörden auch auf Sicherheitspersonal. Wenn ein Asylbewerber abtauchen will, kann das SEM das aber nicht verhindern. Denn die Empfangs- und Verfahrenszentren, in denen die Migranten registriert werden und ihre Asylgesuche stellen, sind laut SEM «keine geschlossenen Einrichtungen». Tagsüber dürfen sich die Asylbewerber frei bewegen, sofern sie nicht in ein Beschäftigungsprogramm eingebunden sind. Wieso aber will jemand, der ein Asylgesuch gestellt hat, das Verdikt der Behörden nicht abwarten? Und wieso ist diese Zahl zuletzt so deutlich angestiegen? Beim SEM sieht man die Entwicklung als «unmittelbare Folge der Schweizer Asylpraxis». Die Schweiz setze das Dublin-System konsequent um und behandle aussichtslose Asylgesuche prioritär. «In der Folge suchen Migranten offensichtlich vermehrt Staaten mit für sie womöglich günstigeren Rahmenbedingungen des Asylsystems auf», schreibt es.
Bürgerliche sehen positive Aspekte
Für den Bund sind die vielen untergetauchten Asylbewerber also auch Ausdruck der strengen und konsequenten Schweizer Asylpolitik. Bürgerliche Asylpolitiker sehen das allerdings anders. Heinz Brand etwa sagt, 2016 sei ein spezielles Jahr gewesen, weil viele Flüchtlinge die Schweiz als Transitland genutzt hätten. In den Augen des SVP-Nationalrats lag das aber weniger an der Schweizer Asylpolitik als vielmehr an der «Aufnahmebegeisterung in anderen europäischen Ländern, Deutschland und Österreich etwa». Für den Bündner ist die Schweiz noch immer «zu grosszügig und zu undifferenziert», wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Für Nationalrat Matthias Jauslin (FDP/AG) sind die vielen untergetauchten Asylbewerber zwar eine «unangenehme Situation, weil wir es gewohnt sind, dass man Prozesse beendet. Ich sehe das aber nicht als dramatisch, sondern eher als unbefriedigend an.»
Beide Politiker gewinnen der Entwicklung sogar Positives ab. Brand denkt an die Schwierigkeiten, die die Schweiz bei der Rückführung von Flüchtlingen hat, die kein Asyl bekommen. «Vor diesem Hintergrund ist es gar nicht so schlimm, wenn die Leute weiterziehen, man muss eher froh sein. Jeder Flüchtling, der von selbst verschwindet, ist ein Glücksfall, weil die Vollzugsprobleme nicht anfallen.» Jauslin formuliert das nicht ganz so drastisch, meint aber letztlich etwas Ähnliches: «Wenn die Schweiz nicht mehr zuoberst auf der Prioritätenliste steht, ist das ja nicht unbedingt negativ.»