Mit Bürgerjournalismus gegen die Zensur

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Täglich kommt es auf den Strassen Venezuelas zu Protesten gegen die sozialistische Regierung von Präsident Nicolás Maduro. Mit «Reporte ya» können die Venezolaner ihre eigene Chronik der Krise twittern. Bild: Key

In Venezuela gibt es mehr Handys als Einwohner – und seit Beginn der politischen Krise zücken verunsicherte Bürger in Ausnahmesituationen immer schneller ihr Smartphone und halten alles auf Video fest. Die Zeitung «El Nacional» hat das Projekt «Reporte ya» ins Leben gerufen und arbeitet dort mit den Bürgerjournalisten zusammen.

von Sandra Weiss

Sonntagmorgen, auf dem Platz von Los Palos Grandes im Osten der venezolanischen Hauptstadt. Alle 100 Stühle unter der schattenspendenden Plane sind besetzt, auch auf den umliegenden Steinbänken sitzen dicht gedrängt Studenten und Ärzte, Sekretärinnen, Architekten, Arbeitslose, junge Elternpaare und Rentner. «Sich und andere im Notstand informieren» lautet das Thema des Seminars; Redner sind zwei lokale Twittergrössen. Ganz normale Menschen wie sie sind die Antwort Venezuelas auf die «Kommunikationshegemonie» der linken Regierung unter Machthaber Nicolás Maduro. Alle Anwesenden sind potenzielle Bürger­reporter, die lernen wollen, wie sie einseitige Informationen, «Fake News» und die Zensur der Regierung umgehen können und wie sie am besten ihre eigene Geschichte von der Krise in ­Venezuela erzählen.

Sie erhalten praktische Verhaltenstipps, wie man sich vor Polizeiüber-griffen und Tränengasbomben schützt oder sein Handy wackelfrei hält, genauso wie redaktionelle Unterweisungen, dass zum Beispiel jedes Video, jedes Foto, jede Anklage auf sozialen Netzwerken mit Datum, Ort und Uhrzeit versehen sein sollte.

Ein «Schatz» in der Hand

Dutzende dieser Gratis-Freiluft-Seminare hat die Stiftung der Zeitung «El Nacional» im ganzen Land durchgeführt, über 7000 Venezolaner wurden bislang im Umgang mit digitalen Medien in Krisenzeiten geschult. «Vom Schulkind aus dem Armenviertel bis zur pensionierten Ingenieurin, über Politiker, Ärzte und sogar Bischöfe», schmunzelt Patricia Rodríguez, Koordinatorin des Projekts «Reporte ya». Ins Leben gerufen wurde das Projekt im Jahr 2010 – damals eher als Versuch, die beginnenden, sozialen Netzwerke journalistisch auszuloten und um die Bevölkerung politisch fortzubilden. «Uns wurde aber schnell klar, welchen Schatz wir da in der Hand hatten», erzählt Rodríguez. Denn bald schon begannen die Schikanen gegen oppositionelle, bürgerliche Medien. Zuerst verbal, dann wurden Lizenzen entzogen oder nicht verlängert, es folgten Klagen in Millionenhöhe, die Zuteilung von Devisen und Papier wurde immer knapper. Viele renommierte bürger­liche Zeitungen, Radio- und TV-Sender hielten dem Angriff nicht stand. Eigene Korrespondenten in den Regionen konnten sie sich bald nicht mehr leisten. Irgendwann verkauften die Besitzer – meist an der Regierung nahestehende Investoren. Unter den neuen Eignern verkümmerten die Medien zu Propagandainstrumenten der Herrschenden. Kritische ausländische Seiten und Sender wie CNN oder NTN24 werden blockiert.

«El Nacional» halbierte zwar seine Auflage, widerstand aber – und wurde nicht enttäuscht. Bald schon erhielten Rodríguez und ihre sechs Mitarbeiter von den Bürgerjournalisten exklusive Informationen aus dem ganzen Land, über Medikamenten- und Güterknappheit, zerfallende Fabriken, marode Hospitäler. Informationen, die sie über das Twitterkonto von «Reporte ya» weiterverbreiteten. Von 5000 Nutzern stieg die Fangemeinde auf heute 480 000 an. «Dank der Informationen hatten wir ein aktuelles, landesweites Röntgenbild der Mangelwirtschaft», so Rodríguez. Es war der Grundstock für das erste datenjournalistische Projekt von «El Nacional» über die Güterknappheit in Venezuela.

Medikamentenbörse über Twitter

«Reporte ya» wurde schnell mehr als nur ein Abbild des sozialen und wirtschaftlichen Niedergangs. In ihrer Verzweiflung starteten die Leute Medikamenten-Tauschbörsen über Twitter. «Wir haben sie untereinander vernetzt und Kriterien etabliert, dass etwa der Suchende ein ärztliches Rezept hochladen und den Wirkstoff nennen muss und dass der Anbieter sicherstellt, dass das Medikament noch vollständig und nicht abgelaufen ist», erzählt Rodríguez. Bei Wahlen fungiert die Plattform ausserdem als virtueller Wahlbeobachter, denn bei «Reporte ya» laufen zeitnah Informationen aus dem ganzen Land über Zwischenfälle und Unregelmässigkeiten ein. Die Tweets, die oft auch international Echo finden, zwingen die Machthaber zu Reaktionen. «So sehen die Medien der Zukunft aus. Sie müssen einen Nutzen haben, Sinn machen für die Leser», sagt Rodríguez.

Manches, was die Bürgerreporter posten, lässt einem kalte Schauer über den Rücken laufen. Zum Beispiel die Ärztin aus dem Bundesstaat Portuguesa. Nennen wir sie Maria, denn sie versteckt sich – wie die meisten Zuarbeiter von «Reporte ya» – zum eigenen Schutz hinter einem Pseudonym. Ganz zu Beginn der Protestwelle, am 21. April, bekam sie mit, wie die Sicherheitskräfte in ihrem Viertel Jagd auf vermeintliche Strassenblockierer machten – unter lautstarkem Protest der Nachbarn. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, ging ans Fenster und filmte – bis ein Schuss fällt, Schreie wie «er hat mich getroffen» erklingen und dann nur hektische Bilder zu sehen sind – von der Wand, vom Waschbecken, dann wird der Bildschirm schwarz. «Während der Rest der Familie Erste Hilfe leistete, postete eine Cousine das Video auf Twitter», schildert Rodríguez. Maria überlebte den Streifschuss und wurde über Nacht zur Berühmtheit. «Sie ist eigentlich schüchtern und war davon so überwältigt, dass sie ihr Twitterkonto blockierte», erzählt Rodríguez.

Es ist eine dieser Geschichten der anonymen Helden, die Rodríguez den angehenden Bürgerreportern oft erzählt, um sie auf die Gefahren aufmerksam zu machen. Abschrecken lassen sich aber die wenigsten. In Venezuela gibt es mehr Handys als Einwohner, es ist das lateinamerikanische Land mit der proportional grössten und aktivsten Internetgemeinde, die Jugendlichen scheinen mit dem Smartphone und den sozialen Medien verwachsen zu sein. Dutzende der über 90 Morde, die es seit Beginn der Proteste vor drei Monaten gegeben hat, wurden deshalb live gefilmt – viele von Bürgern oder Demonstranten, die zur rechten Zeit das Handy parat hatten. «Die Informationen zu kuratieren und zu überprüfen, ist nicht immer einfach», sagt Rodríguez – und eine Aufgabe ihres Teams. Das geschieht auf die klassische Art: Kontrollanrufe, mehrere Quellen checken, kontrastieren.

Zukunft und Vergangenheit

«‹Reporte ya› sollte nie Journalisten ersetzen, sondern ihre Arbeit ergänzen und für den Moment gerüstet sein, an dem es gar keine freie Presse mehr gibt und die Bürger Protagonisten werden», erklärt Rodríguez. Und was geschieht an dem Tag, an dem die Regierung Internet abstellt? Rodríguez lacht. «Das tut sie jetzt schon, indem sie stundenweise den Strom kappt oder in kritischen Momenten die Kapazität so herunterfährt, dass alles ewig dauert.» Aber auch für den Fall eines kompletten Absturzes ist «Reporte ya» gerüstet. Mit Hobbyfunkern und katholischen Radiosendern wurde ein Netzwerk aufgebaut, das im Notfall analog und dezentral funktioniert. Manchmal führt der Weg in die Zukunft auch über die Vergangenheit.

Ziviler Ungehorsam Venezuelas Opposition hält eigenes Plebiszit ab

In ihrem erbitterten Streit mit Venezuelas Staatschef Nicolás Maduro hat die Opposition gestern eine symbolische Volksabstimmung über die umstrittene Verfassungsreform des Präsidenten abgehalten. Das Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) verkündete am Morgen um kurz nach 7 Uhr (Ortszeit, 13 Uhr) die Öffnung der Wahllokale. Zu diesem Zeitpunkt standen vor mehreren Wahllokalen in der Hauptstadt Caracas schon Dutzende Menschen Schlange. Das Regierungslager wollte die rechtlich nicht anerkannte Abstimmung boykottieren. Die Opposition hatte das Referendum aus Protest angekündigt, nachdem die Regierung eine Volksabstimmung zu der geplanten Verfassungsreform abgelehnt hatte. Als internationale Beobachter der symbolischen Volksabstimmung lud die ­Opposition Mexikos Ex-Präsidenten ­Vicente Fox, Costa Ricas frühere Staatschefs Laura Chinchilla und ­Miguel Ángel Rodríguez, Kolumbiens Ex-Präsidenten Andrés Pastrana sowie den früheren bolivianischen Staatschef Jorge Quiroga ein.

Maduros sozialistische Regierung will eine neue Verfassung von einer verfassunggebenden Versammlung verabschieden lassen, die am 30. Juli bestimmt werden soll. Die Opposition befürchtet, dass der Präsident das Gremium mit seinen Anhängern besetzen könnte, um sich dann mit der neuen Verfassung diktatorische Vollmachten zu geben. In Maduros Reformplänen sehen seine Gegner einen Versuch, das von der rechtsgerichteten Opposition dominierte Parlament auszubooten. Venezuela steckt in einer schweren Krise, seit Anfang April gibt es beinahe täglich Proteste gegen Maduro. Gestern kam dabei ein Mensch ums Leben. Die konservative und rechtsgerichtete Opposition kämpft für eine Amtsenthebung des Staatschefs, den sie für die schwere Wirtschaftskrise und die dramatischen Versorgungsengpässe im Land verantwortlich macht. Der sozialistische Präsident beschuldigt seinerseits die ­Regierungsgegner, mit Unterstützung der USA einen Staatsstreich gegen ihn zu planen.

Das erdölreichste Land der Welt versinkt seit Monaten im Chaos. Mehr als 90 Menschen sind seit Anfang April bei massiven Strassenprotesten gegen die Regierung gestorben. Diese hatten sich an der zeitweise Entmachtung des Parlaments entzündet.

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