«Die FIFA hat mir die WM verdorben»

Jonas Schlagenhauf | 
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«Ich glaube wirklich, dass die FIFA dieses Mal den Bogen überspannt hat», sagt Ralph Tanner mit Blick auf die Fussball-WM in Katar. Bild: Roberta Fele

Der Schaffhauser Philosoph und Ethiker Ralph Tanner spricht im Interview über das Dilemma, in das sowohl Spieler als auch Fans durch die WM-Vergabe nach Katar gebracht wurden.

Am Donnerstag um 11 Uhr spielt unsere Nationalmannschaft ihr erstes Spiel an der Weltmeisterschaft gegen Kamerun. Abgesehen davon, dass von der sonstigen WM-Stimmung jede Spur fehlt, kämpfen viele mit der Frage, ob man sich die Fussballspiele angesichts der Missstände in Katar überhaupt anschauen sollte. Der Schaffhauser Philosoph und Ethiker Ralph Tanner gibt Entwarnung: «Bei dieser Frage gibt es kein Richtig oder Falsch.»

Ralph Tanner, haben Sie einen Tipp, wer Weltmeister wird?

Ralph Tanner: Einen Tipp habe ich nicht, aber ich hoffe auf eine Mannschaft, die genug Mut hat, um im Finalspiel irgendein Zeichen für den Fussball und die Menschlichkeit zu setzen.

Zur Person

Geboren 1972, ist Ralph Tanner seit fast zwei Jahrzehnten als Deutsch- und Philosophielehrer an der Kantonsschule Schaffhausen tätig. Nebenberuflich arbeitet er als Weinhändler und ist seit seiner Kindheit Fussballfan mit Leidenschaft.

Werden Sie die Spiele anschauen oder boykottieren Sie die WM?

Ich habe lange darüber nachgedacht und bin noch am Zweifeln. Ich habe mich viel mit dem Thema beschäftigt und es diese Woche auch mit meiner Philosophie-Maturaklasse an der Kanti besprochen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werde ich mir aber die Spiele der Schweiz und einige Finalspiele anschauen.

Und wie war der Tenor in Ihrer Klasse?

Ausgeglichen. Es waren alle Meinungen vertreten. Das ist auch gut so. Bei so einer Frage gibt es kein Richtig oder Falsch. Wenn vernünftige Menschen kritisch über etwas nachdenken, dann kommen sie auf unterschiedliche Lösungen. Es ist nicht die Aufgabe der Philosophie, jemandem etwas vorzuschreiben. Die Zeit der Dogmen ist in unseren Breitengraden passé.

Also ist das eine persönliche Entscheidung?

Ja, aber diese darf nicht willkürlich getroffen werden. Wir in den westlichen industrialisierten Ländern haben alle den Luxus und die Zeit, über dieses Thema nachzudenken. Ich halte es für moralisch verwerflich, wenn man aus Faulheit nicht darüber nachdenkt und eine Entscheidung trifft, ohne sich vorgängig zu informieren.

«Es ist nicht die Aufgabe der Philosophie, jemandem etwas vorzuschreiben. Die Zeit der Dogmen ist in unseren Breitengraden passé.»

Wie ist Ihre Einstellung zu dieser WM?

Ich habe früher lange selber Fussball gespielt und bin noch immer ein leidenschaftlicher Fussballfan. Vor den letzten Weltmeisterschaften habe ich die Spielpläne ausgedruckt, die Mannschaften analysiert und beim Tippspiel eines Freundes heimlich auf meinen Sieg gehofft. Bei dieser WM haben wir nichts unternommen, und als am Sonntag das erste Spiel übertragen wurde, war ich sehr gerne Gast im Literaturclub der Schaffhauser Buchwoche. Mit der ganzen Vorgeschichte hat die FIFA mir – und wahrscheinlich auch vielen anderen – die Lust an der WM genommen.

Es wird oft gesagt, der Profifussball habe den Kontakt zu den Fans verloren. Ist diese WM nun der Höhepunkt?

Ich glaube wirklich, dass die FIFA dieses Mal den Bogen überspannt hat. Auf ihrer Webseite schreiben sie, dass sie das Ziel verfolgen, «weltweit positive gesellschaftliche Veränderungen zu fördern». Solche Statements der FIFA sind angesichts der Tatsachen rund um die WM in Katar völlig unglaubwürdig. Diese Unglaubwürdigkeit der FIFA ist in der Öffentlichkeit mittlerweile so gross, dass die Distanz zu den Fans riesig geworden ist. Hier herrscht eine abgehobene, sich amoralisch verhaltende Elite über den Fussball, der doch eigentlich allen gehört.

2010 war die WM in Südafrika, danach in Brasilien und dann in Russland. Alles auch keine Vorzeigeländer. Warum gibt es jetzt so eine grosse Debatte, und damals nicht?

Bereits bei der WM in Russland gab es kritische Stimmen, die waren aber bei Weitem nicht so laut, wie sie es jetzt sind. Für mich ist die Vergabe der WM an Katar ethisch betrachtet noch verwerflicher als vor vier Jahren in Russland: Die Umweltbelastung der Spiele ist deutlich höher als damals in Russland, die Menschenrechte und die Meinungsfreiheit werden massiv beschnitten und der Gipfel der Tragödie sind Tausende Billiglohnarbeiter, die nachweislich auf und neben den Baustellen gestorben sind.

Was müsste man beachten, wenn sich das nächste Mal wieder ein Land wie Katar für eine WM oder Olympiade bewirbt?

Entweder man vergibt die Spiele nicht mehr an solche Länder oder es werden rechtlich und moralisch verbindliche Bedingungen an eine Vergabe geknüpft. Vorgaben wie humane Arbeitsbedingungen, das Einhalten der Menschenrechte oder Klimaverträglichkeit müssen vertraglich festgehalten und konsequent kontrolliert werden. Verstösst das Austragungsland gegen die Vereinbarung, muss die Konsequenz sein, dass ihm die WM entzogen wird und sie an einem zuvor festgelegten Ersatzort stattfindet.

Bei wem liegt die Verantwortung zu sagen, dass ein Anlass wie die Weltmeisterschaft boykottiert werden soll? Sind es die Länder, Fussballverbände, Sportler oder doch die einzelnen Bürgerinnen und Bürger?

Wie schon gesagt, stehen alle Menschen, die vernünftig sind und sich frei eine Meinung bilden können, in der Verantwortung. Natürlich haben der FIFA-Präsident und die Fussballverbände eine grössere Verantwortung als der einzelne Fussballfan. Der moralischen Verantwortung entziehen kann sich aber niemand.

Nun werden oft Spieler oder Trainer gefragt, was sie von der WM in Katar halten. Die Verantwortung wird scheinbar auf sie abgeschoben. Ist das richtig?

Nein. Die Spieler wurden ja genau wie die Fans in diese Situation hineingeworfen. Kein Fussballer hat gesagt, dass er die WM in Katar haben will. Einerseits wollen sie für ihr Land spielen und die Chance nicht verpassen, an einer WM dabei zu sein. Aber andererseits wissen sie natürlich auch um die Problematik dieses Turniers. Das bringt sie unweigerlich in ein Dilemma. Bei den Spielern kommt noch dazu, ob sie sich trauen, zivilen Ungehorsam zu leisten und damit öffentlich ein Zeichen zu setzen. Das erfordert natürlich viel Mut, aber einige haben ja bereits in kleinen Gesten ihren Protest nach aussen getragen.

Katar nutzt die WM als Werbeshow, um sich auf der Weltbühne zu präsentieren. Dasselbe galt für die Winterolympiade in China vor einem Jahr. Es scheint, dass es bei den grössten Sportereignissen der Welt nicht mehr um den Sport geht. Was bedeutet das für die Zukunft des Sports?

Es ist ja bekannt, dass der Fussball oder die Olympischen Spiele in den letzten zwei Jahrzehnten stark kommerzialisiert wurden. In diesem Kommerzialisierungsprozess konnten sich Länder wie Katar die WM «kaufen». Dass die Katari die WM in Form einer Imagekampagne für ihr Land nutzen wollen, ist aus deren Sicht nachvollziehbar, aber der Fussball und mit ihm die FIFA, die Landesverbände wie die Sponsoren haben meines Erachtens künftig wieder den Fokus auf den Sport und die soziale Verantwortung zu legen.

«Muss das nächste Mal die WM an Nordkorea vergeben werden, damit alle aufwachen?»

Glauben Sie, dass bei all den negativen Nachrichten aus Katar die WM auch etwas Gutes hat?

Wir sind am negativsten Punkt angekommen, und dieser hat viele aufgerüttelt. Durch die breite Diskussion wird hoffentlich – zumindest in den westlichen Ländern – ein Umdenken stattfinden. Dabei geht es nicht nur darum, ob man jetzt die WM-Spiele schaut oder nicht, sondern dass man generell verantwortungsbewusster handelt. Ich glaube, dass die unselige WM in Katar auch eine Chance für ein Umdenken darstellt. Wenn jetzt nichts passiert, was muss denn noch passieren? Muss das nächste Mal die WM an Nordkorea vergeben werden, damit alle aufwachen?

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