«Sternenkinder», die Weisen des Lebens

Thomas Güntert | 
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Brigitte Trümpy berichtete in Eglisau darüber, wie sie ihren krebskranken Enkel Till vier Jahre lang auf der Reise zu den Sternen begleitete und nach dem grossen Schmerz wieder aufgestanden ist.

Hansjörg Hophan vom Verein Rufnetz Zürcher Unterland konnte am Dienstag im Katholischen Gemeindezentrum in Eglisau rund 25 Besucherinnen und Besucher zum Vortrag mit dem Titel «Sternenkinder» von Brigitte Trümpy-Birkeland begrüssen; darunter zahlreiche Frauen, die im konfessionell und politisch unabhängigen Eglisauer Verein mit Einzugsgebiet im Rafzerfeld und dem Schaffhauser Kantonsteil Buchberg/Rüdlingen ehrenamtlich Schwerkranke und Sterbende begleiten.

Trümpy erzählte die Geschichte, die das Leben in ihr Gesicht gemeisselt hat und die sie im Buch «Sternenkind – wie Till seinen Himmel fand» in Worten, Bildern und Erinnerungen zusammenfasst: Es begann an Weihnachten 1999, das zu einem von Brigitte Trümpys schönsten Feste werden sollte, weil ihre Enkelin Malin nach einer Masernimpfung eine lebensbedrohliche Gehirnhautentzündung überstanden hatte. Aber es kam alles ganz anders: Bei Malins Bruder Till wurde ein Gehirntumor diagnostiziert.

Kein Zurück in der Realität

Die heute 72-Jährige aus Netstal berichtete, wie plötzlich der Boden unter ihr einbrach, alles seine Selbstverständlichkeit verlor, die ganze Familie atemlos, ohne Haltegriff, aus der sicheren Welt herausgeschleudert wurde. Das Leben hat von der Mutter und Grossmutter etwas vom Schwersten abverlangt: Sie durfte ihren Enkel nicht ins Leben, sondern musste ihn in den Tod begleiten.

«Sein Tsunami wurde auch zu unserem Tsunami», sagte Brigitte Trümpy, die vier Jahre im Ausnahmezustand zwischen dem damaligen Zuhause in Dielsdorf und dem Krankenzimmer im Kinderspital Zürich lebte, stundenlang am Bett ihres Enkels sass, der dem Himmel näher war als der Erde. Um die Seelen ihrer Kinder zu schützen, schuf die Grossfamilie eine Parallelwelt, baute durch die offene Kommunikation ein grosses Netzwerk auf und verteilte die Aufgaben auf verschiedene Schultern.

​​​​​​​Riesenbedürfnis für ein Schweizer Kinderhospiz

Frau Trümpy, wie geht die Gesellschaft mit der besonderen Situation um, wenn ein Kind stirbt?

Brigitte Trümpy-Birkeland: Wir sind eine Wohlstandsgesellschaft mit dem Privileg, dass jeder entscheiden kann, ob er hin- oder wegschaut. Manche Leute wechseln das Trottoir, wenn ihnen eine Mutter begegnet, die ihr Kind verloren hat. Es gibt nichts Verletzenderes, als nichts zu sagen. «Ich weiss nicht, was ich sagen soll» oder einfach nur «Mir fehlen die Worte» wäre schon genug.

Besteht aus Ihrer Sicht in der Schweiz generell Bedarf für ein Kinderhospiz?

Ja, es ist ein Riesenbedürfnis. Wir haben sehr viele Familien, die am Abgrund stehen, die mit schwerbehinderten Kindern und dem ewigen Kampf mit der IV allein gestellt sind. In der Schweiz gibt es kein Hospiz, wie beispielsweise im deutschen Tannheim, wo ganze Familien Zeit verbringen können und von besten Fachleuten betreut werden. Bei uns kommt die Mutter irgendwann in die Psychiatrie, oftmals wird die ganze Familie zum Patienten.

Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Till hat immer gesagt, dass er mit Gott redet, und ich war mir immer sicher, dass er wusste, wo er hingeht. «Was wissen wir denn schon?», ist für mich heute noch einer der wichtigsten Sätze von Till. Wenn wir einmal hoch fliegen, glauben wir an ein Leben nach dem Tod. Vielleicht reicht das schon. Was dann wirklich ist, sei dahingestellt.

Brigitte Trümpy-Birkeland Präsidentin Verein «Sternentaler»

Till nahm das Schicksal an, lebte nach dem Motto «Aus jedem Tag das Beste daraus machen». «Er wurde zu unserem Lehrer», sagte die Referentin, die gelernt hat, dass es kein Zurück mehr gibt und Liebe und Zeit die grössten Geschenke sind. Obwohl in der kirchenfernen Familie nie eine Religion im Vordergrund stand, hatte Till sich ein Religionsbücher und Kinderbibeln gekauft, sich wochenlang damit befasst und seinen eigenen Weg gesucht. Er wollte nach dem Tod ein Engel werden und dass die Seele wieder zurück in den Familienverband kehrt.

Trümpy erzählte von der kleinen Malin, die ihren Bruder bis zu seiner letzten Fahrt mit dem Bestatter immer wie einen Schatten begleitete und die Verbindung zum normalen Kinderleben war. Malin und Till entschieden sich vor Tills Tod noch zur Taufe.

«Er ist nicht gestorben, er hat gezügelt.»

Malin, Schwester des verstorbenen Tills

Beim Entscheid, die Abflughalle zu wechseln und auf den letzten Flug zu warten, musste die Grossmutter die Realität annehmen, das Kind loslassen. Im September 2010 ging Till leise und ohne Angst und Schmerzen, seine Seele flog von der Erde. «Er ist nicht gestorben, er hat gezügelt», wie es Malin damals ausdrückte.

Brigitte Trümpy wurde bei ihrem Vortrag von ihrem Mann Heiri an der Handorgel musikalisch begleitet. Besonders berührend: das Lied «Am Himmel steht ein Stern zur Nacht«, das Heiri für Till umgetextet und an der Beerdigung gesungen hatte.

Vernetzungsprojekt für Betroffene

Nach dem Tod von Till fühlte Brigitte Trümpy eine grosse Leere. Sie ist aber wieder aufgestanden und hat das Facebook-Netzwerk «Sternenkinder-Grosseltern» gegründet und damit Menschen mit ähnlichen Schicksalen aus der Isolation geholt. Parallel zur Veröffentlichung ihres Buchs hat sie 2014 für Familien mit einem schwerkranken, behinderten oder verstorbenen Kind den Verein «Sternentaler» gegründet, der «Sternenfamilien» fachliche Beratungen anbietet.

Zusätzlich werden über Spenden vereinsamte und zerbrochene «Sturmfamilien» bei der Alltagsbewältigung unterstützt. «Die Dankbarkeit ist die Motivation für meine Arbeit», sagte die kleine Glarner Seniorin mit dem grossen Herz.

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