Zwischen Mauern und Mandalas: So lebt Franz W.

Ralph Denzel | 
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Vier Meter hohe Mauern, Kameras, höchste Sicherheitsvorkehrungen: Das ist der Hochsicherheitstrakt der Psychiatrie in Rheinau. Wir durften uns mit der Kamera umsehen.

Das Gelände der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in Rheinau ist weitläufig – und wirkt überraschend einladend. Dicke Bäume stehen auf sauber geschnittenen Wiesen, die zwischen den alten Gebäuden auf dem Komplex liegen. Wer zum Haus 61 geht, dort, wo die ärztliche Leitung untergebracht ist, kommt an Sitzgruppen vorbei, die jetzt im Herbst verwaist sind, an einem Fussballfeld, dessen Rasen so grün wirkt wie derjenige im Stadion des FC Schaffhausen und an Gebäuden, die eher nach Wohnheim denn nach psychiatrischer Klinik aussehen.

Das Klinikgelände von Oben. Bild Google-Maps

Einzig der grosse Bau in der Mitte, den jeder schon mal gesehen hat, der durch Rheinau in Richtung Marthalen gefahren ist, scheint ein wenig deplatziert zwischen all den Häusern, die wirken, als wäre die Zeit irgendwann Anfang des 20. Jahrhunderts stehengeblieben. Ein hoher Maschendrahtzaun wächst aus den Mauern, die von allen Seiten von Kameras mit integrierten Flutlichtanlagen umstellt sind. Es ist die Sicherheitsstation, ein Hochsicherheitstrakt. Die Mauern sind in den gleichen Farben wie bei den Häusern rundherum gehalten und trotzdem wirkt das hochmoderne Gebäude wie ein Fremdkörper auf dem weitläufigen Areal.

Wer dort reinkommt, wurde von einem Gericht zu einer stationären Massnahme verurteilt, weil er aufgrund einer psychischen Erkrankung eine Gefahr für die Bevölkerung darstellt. Wir haben einen Blick hinter die Mauern des Sicherheitstraktes bekommen.

Hinter geschlossenen Türen

Durch die Abteilung führen uns Steffen Lau, Chefarzt des Zentrums für Stationäre Forensische Therapie in Rheinau und sein Stellvertreter Gunther Keck. Direkt am Anfang machen die beiden eines klar: Die forensische Abteilung ist kein Gefängnis, sondern eine Klinik.

«Unsere Patienten dürfen sich darin frei bewegen», so Lau. So frei man das eben hinter knapp vier Meter hohen Mauern kann. «Die Menschen die hierher kommen, wurden von einem Gericht verurteilt.» Das bedeutet, dass sie, zumindest für eine Weile, nicht mehr Teil der Allgemeinheit sein können. Das heisse jedoch nicht, dass diese Menschen per se gefährlich sind, so Lau. Vor allem seien sie eines: krank. Darauf legt man in der Klinik viel Wert. Es geht schon damit los, dass nicht einmal während unseres Gespräches das Wort «Häftling» fällt, sondern immer nur von Patienten gesprochen wird. Die Menschen brauchen Hilfe, keine Strafe, ist man sich in Rheinau einig. 

Rund um den Hochsicherheitstrakt sind Kameras mit Flutlichtanlagen angebracht.

Diese Hilfe beginnt meistens im Kleinen: «Es geht für unsere Patienten oft darum, dass sie banale Alltagssachen wieder strukturiert durchzuführen lernen.» Aufstehen, Mittagessen machen, Körperpflege – damit geht es meistens los.

Pflichten, wie man sie aus Gefängnissen kennt, gibt es in Rheinau hingegen nicht. «Es besteht der Wunsch von unserer Seite aus, dass unsere therapeutischen Angebote, die wir für notwendig halten, angenommen werden», erklärt Chefarzt Steffen Lau. Das bedeutet: Kein Zwang. Für Aussenstehende mag das im ersten Moment überraschend klingen, denn es entspricht nicht dem gängigen Bild, welches man in der Regel von einer Psychiatrie hat. «Wir arbeiten mit Motivation – wenn jemand etwas von sich heraus tut, ist die Wirkung vielversprechender als wenn er mit Zwang zu etwas geführt wird», erklärt Steffen Lau den Ansatz. Das bedeutet jedoch nicht, dass ein Patient jegliche Behandlung verweigern kann – aber es wir auf «sanfte» Art versucht, ihn dazu zu bewegen.

Aussen ein Gefängnis, Innen eine Klinik

Der Weg vom Haus der medizinischen Leitung zum Hochsicherheitstrakt ist nicht weit – trotzdem wirkt das Gebäude von aussen immer bedrohlicher, wenn man sich diesem nähert. Auch wenn Steffen Lau betont, dass es eine Klinik ist: Es wirkt wie ein Gefängnis.

Der Hochsicherheitstrakt von Aussen. Bilder: Ralph Denzel

Daran ändert sich auch nichts, als wir in den Vorhof treten. Er ist schlicht gehalten. Als die schwere Metalltür hinter uns ins Schloss fällt, fühlt man sich irgendwie eingesperrt.

Jeder, der hier einen Angehörigen besuchen will, tritt durch dieselbe Tür, wie wir es tun. Hinter einer Glasscheibe sitzen zwei Wachleute, die uns aufmerksam mustern. Im Empfangsraum steht ein Röntgengerät und ein Metalldetektor. Immer tiefer dringt man in den Sicherheitsbereich vor. 

Besucher durchlaufen Sicherheitskontrollen wie an einem Flughafen, ehe sie eintreten dürfen.

Die Tür zum Eingangsbereich, dort, wo Angehörige auf Patienten treffen können, öffnet sich mit einem lauten Summen.

Wir kommen an den Besucherräumen vorbei. Diese wirken freundlich, aber irgendwie auch steril. Holzstühle mit grauem Bezug stehen um einen kleinen, schwarzen Tisch in einem hellen Raum. Daneben findet man, wie man es aus Gefängnisfilmen kennt, einen weiteren Raum.

Der Besucherraum.

Hier werden die beiden Gesprächspartner getrennt von einer dicken Plexiglasscheibe. Steffen Lau erklärt: «Das nutzen wir, wenn ein Patient noch keine Verhandlung hatte oder Gespräche aufgezeichnet werden müssen.» Aus Sicherheitsgründen, also weil von einem Patienten eine Gefahr ausgehe, werde der Raum hingegen fast nie genutzt.

Der Raum, in dem Patient und Besucher getrennt sind, wird oft auch von Anwälten bei Konsultationen genutzt.

Wir kommen zu einer weissen Tür, die wie ein Designerstück wirkt. Gunther Keck gibt einen Zahlencode ein und die Tür schwingt auf. «Ab jetzt können wir auch Patienten begegnen», erklärt er. Seine Stimme klingt informierend, aber für einen Aussenstehenden, der nur Geschichten über die Klinik gehört hat, wirkt es wie eine Drohung.

Gross und schick: Die Tür, die zu dem Bereich führt, in dem man Patienten begegnen kann.

Zu den drei Stationstrakten führt jeweils eine Tür. Diese gehen in einem riesigen Raum ab, der so hoch ist, dass selbst bei einem Gespräch in Zimmerlautstärke jedes Wort hallt, als würde man brüllen. Steffen Lau und Gunther Keck zeigen uns die Station zwei.

Keine Zombies - Menschen

Zombiestation – das ist, was viele sich vorstellen, wenn sie sich eine geschlossene Psychiatrie vorstellen - mit Medikamenten vollgepumpte Menschen. Dem ist aber nicht so. Die langen Flure, an denen die Patientenzimmer liegen, sind hell und mit braunem Laminat ausgelegt. «Unsere Patienten haben alle Einzelzimmer», so Steffen Lau. Das hat den Vorteil, dass man Patienten dort einschliessen kann und sie nicht in einen gesonderten Raum gebracht werden müssen. Das geschieht, wenn ein Patient zum Beispiel gewalttätig wird, oder sich und andere gefährdet. «Wir versuchen dabei, auch aus rechtlichen Gründen, so einen Einschluss so kurz wie möglich zu halten.»

In der Mitte ist die Pflegestation – tritt man dort ein, merkt man aber, dass es hier eben ein anderer Sicherheitsstandard gilt: Mehrere Monitore flimmern auf einem grossen Tisch, an der Wand sind die Patientennamen eingetragen.

Die Patienten werden rund um die Uhr überwacht.

Auf einen kommen im Sicherheitstrakt ungefähr zwei Pfleger, das ist auch nötig, denn es kann immer wieder was passieren. «Wir sind in der Forensik Experten in der Früherkennung von Gefahren», so Chefarzt Lau. Trotzdem sagt er: «Man muss als Psychiater jederzeit damit rechnen, dass man von seinem Patienten angegriffen werden kann.» Gleichzeitig macht er klar: «Auf einer normalen Notfallstation in einem Spital werden Menschen viel häufiger angegriffen als wir in der Forensik.»

Das merkt man auch im Umgang mit den Patienten: Ein junger Mann läuft an uns vorbei. In der Schaffhauser Altstadt würde er in der Menge einfach verschwinden, so «normal» sieht er aus. Freundlich lächelnd läuft er an den beiden Ärzten vorbei und grüsst sie: «Guten Tag, Herr Lau, hallo, Herr Keck.» Dann verschwindet er um die Ecke.

In einem kleinen Zimmer sitzen mehrere Männer zusammen und rauchen – sie betrachten uns neugierig, als wir vorbeilaufen. Sie wirken interessiert, da es wohl etwas Neues ist, wenn ein Fremder mit einer Kamera durch ihr Zuhause läuft – gefährlich aber nicht. «Ich bin seit zehn Jahren hier», erklärt Chefarzt Steffen Lau. «In der Zeit habe ich pro Jahr ungefähr 30 Patienten entlassen können – und in dreissig Jahren hatte ich bisher nur zwei Patienten, über die man sagen musste: Von ihnen geht noch immer eine Gefahr aus.» Diese müssen auch weiterhin behandelt werden.

Eine Sitzgelegenheit im Innenhof.

Wir treten auf den Innenhof. Dort fühlt man sich ein wenig wie in einem Vogelkäfig, denn alles ist mit hohem Maschendraht umzäunt – links und rechts wachsen Pflanzen, in der Mitte steht eine Tischtennisplatte.

Der Innenhof ist komplett mit Maschendraht umzäunt.

Lange halten wir uns hier nicht auf, da es regnet. Wir gehen direkt in den Ergotherapieraum. Die Wand in diesem Raum ist verziert mit farbenfrohen Mandalas, auf einer Fensterbank stehen bunte Skulpturen, die alle von den Patienten angefertigt worden sind. «Beschäftigung und Struktur ist enorm wichtig und hilft den Menschen auch bei der Rehabilitierung», erklärt der stellvertretende Chefarzt Gunther Keck.

Mandalas an den Wänden. Diese wurden alle von Patienten gemalt.

Der Raum ist aufgeräumt, nichts liegt herum. Das Prinzip, den Patienten Ordnung und Struktur zu geben trifft sich hier direkt mit den Sicherheitsvorkehrungen der Klinik: «Alles was benutzt wird, muss später auch wieder zurückgegeben und weggeschlossen werden», sagt Gunther Keck.

Auch die Holzfiguren wurden von den Patienten gebastelt.

Was auch auffällt: Die Fenster in dem ebenerdigen Raum sind nicht vergittert im eigentlich Sinne. Dicke Metallstangen sind angebracht, die eher wie Jalousien wirken. Irgendwie fühlt man sich auf einmal etwas freier hier, als wäre man in einem Atelier und nicht im Hochsicherheitstrakt. Die Aussenwelt scheint nur eine Fensterscheibe entfernt zu sein.

Mittagessen

Dann verlassen wir die Station wieder. Es ist Mittagsessenzeit. Die Männer, die zuvor geraucht haben, gehen scherzend in Richtung Kantine. Zombies sehen definitiv anders aus. «Das ist ein Klischee, welches vielleicht vor 30 Jahren aktuell war», sagt Gunther Keck. Als er als Psychiater anfing, bekam er diesen Behandlungsansatz noch mit, der vorsah, die Symptome einer Krankheit mit Medikamente zu ersticken, bis die Menschen eher Zombies ähnelten als normalen Menschen. Schlurfender Gang, glasige Augen und Apathie. «Natürlich geben wir auch heute Medikamente, die solche Nebenwirkungen haben können, aber das ist immer eine Abwägungssache: Ist die Nebenwirkung so schlimm, dass sie den Nutzen überwiegt?» Zudem gibt Steffen Lauf zu bedenken: «Es gibt auch Krankheitsbilder, die solches Verhalten, also ‹wie ein Zombie sein› auslösen können.»

Nach der Hochsicherheitsabteilung ist dies die erste Anlaufstelle für Patienten: Die geschlossene Station.

Wenn jemand aus dem Hochsicherheitstrakt entlassen wird, kommt er in die geschlossene Abteilung. Das bedeutet: Er darf zwar nicht frei raus, aber er hat viel mehr Freiheiten. Auch hier wirken die Räume hell und sauber.

Nicht gross, aber hell und zweckmässig: Ein Zimmer in der geschlossenen Abteilung.

Auch hier ist Mittagsessenzeit. Patienten stellen Teller auf die Tische, schwatzen und wirken interessiert, als wir vorbeigehen. Steffen Lau zeigt uns ein leeres Patientenzimmer – dieses ähnelt stark einem Zimmer einer Jugendherberge. «Die Patienten hier gehen auch oft arbeiten in gesicherten Einrichtungen», so Steffen Lau. Das bedeutet, dass man dort auf ihre Bedürfnisse angepasst ist – nicht, dass sie eingesperrt sind.

Werden gut versorgt: Die Hühner der Forensik.

Der Garten in dieser Abteilung hat sogar ein eigenes Volleyballfeld und einen Hühnerstall. «Den haben die Patienten gebaut und sie verpflegen auch die Hühner», erklärt Gunther Keck. Wir gehen näher ran: Die Tiere sitzen unter ihrem Dach, dicht an dicht gedrängt, da der Regen stärker geworden ist. «Vor ein paar Wochen ist ein Huhn gestorben – da herrschte tagelang grosse Trauer auf der Station.»

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Kommentare (1)

Beat Schneckenburger Mi 09.10.2019 - 09:12

Die Sitzgruppen sind verwaist und nicht verweist.

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