Personal Trainer des Aufräumens

Mark Gasser | 
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Wer zu Hause ausmistet, reinigt damit auch seine Psyche. Davon ist Aufräumcoach Eva Woodtli Wiggenhauser überzeugt. ­Profis wie sie sind in der Wegwerfgesellschaft immer gefragter.

Es ist ein Naturgesetz: Das Chaos kehrt immer wieder zurück, das Aufräumen ist eine Sisyphusarbeit. Daher nehme ich die wiederkehrende Unordnung gelassen, sie hat fast etwas Beruhigendes. Viele sind zu Hause Volltischler, im Büro Leertischler. Bei mir ist es – auch dem Hausfrieden zuliebe – eher umgekehrt. Aber ich finde, Türme aus Büchern, Magazinen, Notizen und Manuskripten weisen mich zielgerecht auf die Chronologie meiner Arbeit und die Wichtigkeit der Dokumente hin. Einstein hat mal gesagt: «Wenn ein unordentlicher Schreibtisch einen unordentlichen Geist repräsentiert, was bedeutet dann ein leerer Schreibtisch?» Doch diesmal soll es anders sein: Ich will nicht nur aufräumen, sondern muss richtig ausmisten. Das bedingt, Erinnerungen fortzuwerfen, Reminiszenzen zu shreddern und so den Papierwald abzuholzen. Ich bin nur noch wenige Tage am Arbeitsplatz. Die Frau, die mich begleitet bei diesen schweren Entscheiden, heisst Eva Woodtli Wiggenhauser und ist Mitglied im Verband der Swiss Professional Organizers. Auf Neudeutsch: Sie ist Aufräumcoach. Sie verzieht keine Miene, als sie ins Büro tritt, in dem sich zwölf Jahre lang Papierstapel, Elektroschrott, Kaffeekapseln und angestaubte Bücher angesammelt haben, verschafft sich sofort einen Überblick. Und sie bringt es mit der Frage, die sie später wiederholen wird, gleich auf den Punkt: «Was nimmst du mit ins neue Leben?» Aufräumen könne man erst, wenn man weggeschmissen habe, was man nicht brauche.

Gemeinsam wollen wir dem Chaos im Büro Herr werden. Das Engagement eines Aufräumcoaches im eigenen Büro klingt reizvoll: Jetzt kommt das Räumungskommando! Wie ein Hurrikan wird sich nun die eigene Unordnung wie von Geisterhand zu einem geordneten System zusammenfügen, wo jedes Ding seinen perfekten Platz hat.

Falsch. Ein Aufräumcoach ist eine Hilfe zur Selbsthilfe und will dem «Patienten» die Antwort auf die Frage entlocken: Was ist wesentlich? Eva Woodtli hilft nur dabei, ein sinnvolles System zu finden. Das passt zu ihrem Hintergrund: Von Hause aus Kunsthistorikerin, lernte sie in einem Nachdi­plomstudium an der Uni Zürich in psychologischer Gesprächsführung und Beratung, über Fragetechnik dem Gegenüber aufzuzeigen, was es wirklich braucht. «Das heisst: Ich bin nicht die Kollegin, die sagt, ich würde es so und so machen.» Zudem hat sie einen zweijährigen Fernkurs in Geomantie (europäisches Feng-Shui), also Raumgestaltung, absolviert. «Und in dem Bereich interessierte mich vor allem das Aufräumen.»

Den Nutzen von Dingen erkennen

Aufräumen heisst auch sortieren: Woodtli empfiehlt mir, drei grosse Kisten vorzubereiten. In die eine kommen Sachen, die behalten werden sollen, in einer Kiste «eventuell» wird nochmals nachgeprüft werden müssen, und in eine Kiste kommen Dinge, die definitiv entsorgt werden. Immer wieder fragt sie mich: Wann hast du dieses Ding das letzte Mal gebraucht? So darf ich genau eine aus rund 200 Fussballkarten als Andenken behalten. So geht das weiter mit Büchern, Bürobedarf und vielem mehr. Mein Problem bislang: Ich hänge zu stark an Schnickschnack, latent Nützlichem, das dann im Berg von Gegenständen untergeht. Damit bin ich ein Kandidat für Eva Woodtlis Aufräumlebensschulung.

Trotz der vielen Youtube-Filme zur Selbsthilfe schaffen es viele doch nicht allein, brauchen Motivation und Ratschläge. Vor lauter Konsum müllen sich Herr und Frau Schweizer zu, ein Kollateralschaden der Wegwerfgesellschaft. Und immer mehr finden: Es ist alles zu viel. Einmal Gekauftes oder Geschenke loszulassen, ist für viele auch deshalb nicht einfach. «Es sind nur Gegenstände, die muss man nicht mit viel Gefühl aufladen», sagt Woodtli.

Wer sie kontaktiert, hat einen hohen Leidensdruck und damit Motivation. Sie wolle aber nicht das Alibi dafür sein, dass eine Frau ihrem Mann die Ordnung im Kleiderkasten umkrempele. «Wenn das Einverständnis nicht da ist, bringt es gar nichts.» Und wenn jemand beginnt aufzuräumen, animiert das oft auch den Partner.

Eine ideale Ordnung gibt es genauso wenig wie eine universelle Philosophie des Aufräumens – ähnlich dem Putzen und dem Reinigen. «Man muss mit den Personen gemeinsam erarbeiten, wie sie eine eigene Ordnung finden», sagt Woodtli, «und dass sie selber eine Antwort darauf finden können, warum es nicht stimmt.»

Einer der Hauptpunkte beim Aufräumen: Jedes Ding hat seinen festen Platz. Dabei soll nichts in der «Zwischenablage» landen, man soll es nicht halb wegräumen. Sie praktiziert dieses konsequente Wegräumen auch zu Hause mit ihrem Mann. Einzige Ausnahme: die Treppe. Was dort landet, wird so schnell wie möglich wieder an seinen angestammten Ort gebracht.

Oft lässt gerade die Ausdrucksweise ihrer Kundschaft tief blicken: «Eigentlich», heisst es häufig, «müsste ich schon immer mal aufräumen.» Woodtli sagt dazu: «Die Sprache hängt mit der Art, wie wir uns im Alltag verhalten, zusammen.» Viele Leute blockierten sich sprachlich, indem sie sich unklar formulierten. Daher hört sie ganz genau hin, wenn sie mit Kunden übers Aufräumen spricht: «Ein wenig chaotisch», «nicht so ganz sauber» – typische Sätze von Messis, die Unsicherheit ausdrückten. «Sprachlich muss man erst klare Ziele formulieren, etwa: Ich werde staubsaugen. Nicht: Ich will staubsaugen.»

So hat sie einmal monatelang eine Frau begleitet, einen sogenannten Messi: Man sei nicht einmal zur Wohnung reingekommen, die Tür konnte bloss 30 Zentimeter geöffnet werden. «Bauchnabelhoch standen Kisten», sagt Woodtli. Und hat auch schnell eine Diagnose zur Hand: «Häufig leiden solche Leute unter der Leere. Sie leiden darunter, wenn etwas wegkommt. Häufig ist es dann das Materielle, das eine enorme Wichtigkeit erhält. Man kann sich tage- und wochenlang mit etwas Materiellem beschäftigen.» Sie sei selber immer fasziniert davon gewesen, wie viele Dinge die Menschen anschafften, «und ich verstehe auch, wie sie darunter leiden, zu viele Dinge zu haben». Sie selber reise stets mit einem winzigen Koffer, versuche mit möglichst wenig auszukommen. Sie sei nie ein Sammeltier gewesen. «Ich habe schon bald meine Briefmarkensammlung, die meine Eltern für mich angelegt haben, verkauft.»

Ein Allgemeinrezept zum Aufräumen gibt es nicht. Wenn jemand wenig Zeit habe, könne er jeden Tag etwas weglegen und einen Strich machen dabei. «Man sollte versuchen, nicht jeden Gegenstand noch zweimal umzudrehen, anzuschauen und ihn dann einfach zu verschieben.» Am anderen Ende der Extreme steht Woodtli selber: Sie liebt es, zu sortieren, und ist ein Fan von Notizbüchern, die sie mit Inhaltsverzeichnis versieht, alternativ notiert sie sich Quellen im E-Mail-Programm, macht Verweise, speichert Links, statt alles aufzubewahren.

Macht mich der Gegenstand glücklich?

Woodtli schwört auf die Methode von Marie Kondo aus Japan, welche die Leitfrage ins Zentrum stellt: «Macht mich der Gegenstand glücklich?» Und ganz nach Marie Kondo verspricht auch Eva Woodtli: «Wer sein Heim ausmistet, reinigt damit auch seine Psyche.» Ein schönes Beispiel ist auf Woodtlis Website zu sehen. Dort hält sie eine Kiste voller Schals, die aber nicht gestapelt drin liegen, sondern aufgestellt sind, damit alle zu sehen sind. «Erstens macht es Freude, alle Dinge zu sehen, und zudem sind alle gleichberechtigt und keins geht verloren.» Ihr Prinzip: nebeneinander steht vor übereinander und als schöne Auslage präsentiert, «statt alles in den Schrank zu stopfen». Doch nicht immer lässt sich nach demselben Schema – im Grundsatz gilt: zuerst die Kleider – aufräumen. «Bei Messis muss man oft zuerst die Oberflächen wie die Tischplatten freischaufeln, damit man sie nutzen kann.» Einige fühlten sich schon da bedrängt, weil sie etwas aufgeben müssten. Die psychologische Begleitung beim Aufräumen erklärt auch, warum sie nicht – wie andere in ihrer Branche – für einen Putzfrauenlohn arbeitet. «Ich verlange Handwerkerpreise. Es soll den Leuten auch etwas wert sein.»

Und was mache ich mit den Hunderten von herausgerissenen Zeitungsartikeln, die sich auf und unter dem Schreibtisch türmen? Aus einem Haufen Zeitungsartikel nimmt sie jedes Mal einige auf Zugfahrten mit. Danach seien es mindestens vier Artikel weniger – ob sie diese gelesen hat oder nicht. Allerdings hat sie auch viele ­Bücher in ihren Regalen stehen, etwa über Kommunikationsseminare. «Und trotzdem kann ich sagen: Ich habe weniger Schuhe als mein Mann», deklariert sie.

Und ich kann sagen: Nachdem ich noch einige letzte Tage hier im aufgeräumten Büro gearbeitet hatte, habe ich keins der Hunderten Dinge und der Tausenden Blätter, die ich losgelassen habe, vermisst.

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