Rheinau soll das bedingungslose Grundeinkommen ein Jahr lang testen

Mark Gasser | 
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«Rheinau ist eine Bilderbuchgemeinde»: Drei Vertreter des Projektteams, Jens Martignoni, Rebecca Panian und Ralph Moser, vor dem Gemeindehaus. Bild: Mark Gasser

Eine Filmemacherin und ihr Projektteam wollen in Rheinau das bedingungslose Grundeinkommen für alle testen. Die Idee wurde gestern vorgestellt.

Die Gemeinde Rheinau soll zum Labor werden: Die Einwohnerinnen und Einwohner der Grenzgemeinde sollen für ein Jahr ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten: Die Idee dahinter laut den Initianten: «Jede Person über 25 Jahre hat pro Monat mindestens 2500 Franken zur Verfügung.» Kinder und Jugendliche erhalten weniger. In der Theorie würde das Grundeinkommen jegliche Sozialleistungen ersetzen – das kann das Experiment nicht simulieren. Die Gemeinde unterstützt den privat organisierten Test, der gestern Abend nach der Gemeindeversammlung von den Projektinitianten vorgestellt wurde, bei dem jeder (arbeitstätig oder nicht) freiwillig mitmachen kann. Rheinau ist das von Filmemacherin Rebecca Panian als «Laborgemeinde» ausgewählte Dorf. Sie hatte im Januar 2018 einen Aufruf gestartet, mit dem Ziel, eine Schweizer Gemeinde zu finden, die das bedingungslose Grundeinkommen testen will. In kürzester Zeit seien über 100 Meldungen eingegangen.

Nach der Vorstellung des Projekts durch Gemeinderätin Karin Eigenheer befand der Gemeinderat im Plenum, das Projektteam, bestehend aus Rebecca Panian, dem Ökonomen Jens Martignoni und Ralph Moser, Mitglied des Vereins Dein Grundeinkommen, einzuladen. Nach einem zweiten Treffen Anfang Mai waren dann Gemeindepräsident Andreas Jenni (SP) und seine Behörde überzeugt vom Projekt.

Das Team wird das Geld dann selbst verwalten und auszahlen respektive die Auszahlung überwachen. «Der Gemeinderat soll so wenig wie möglich Mehraufwand haben», sagt Rebecca Panian auf Anfrage. Zwar müssten die Geldflüsse im Detail noch angeschaut werden, aber klar ist: Öffentliche Gelder fliessen fürs Projekt nicht. Der Fokus des Experiments werde bewusst nicht auf der Frage der Finanzierung liegen: Es sei ohnehin «bereits hinreichend belegt, dass eine Finanzierbarkeit erreicht werden kann». Panian bezieht sich auf eine Berechnung des Bundesamtes für Sozialversicherungen vom 11. März 2016: 183 von insgesamt 208 Milliarden Franken wären durch Umverteilung aus den bestehenden Sozialsystemen finanzierbar. Gemäss Bund fehlten aktuell noch 25 Milliarden Franken: Ihr schweben zum Stopfen dieses Lochs Massnahmen wie eine Mikrosteuer auf jeglichem bargeldlosem Zahlungsverkehr vor. «Es fehlt nicht an der Finanzierung oder den Ressourcen. Ich stelle fest: Es mangelt bei uns etwas an Dankbarkeit, Demut und Nächstenliebe. Auch wenn das jetzt etwas esoterisch klingt», erklärt sie gegenüber den SN.

Die Reaktion von vielen der 62 Teilnehmenden der Gemeindeversammlung schwankte zwischen Überraschung und Neugierde, kaum war Skepsis zu spüren. Nur einer verliess bereits beim Schlagwort «Grundeinkommen» kopfschüttelnd den Saal.

Bis zu 5 Millionen Franken

Für die Finanzierung hofft Initiantin Rebecca Panian auf die Grosszügigkeit im Crowd­funding: Um aussagekräftige Resultate zu erhalten, schätzt das Projektteam, dass die Hälfte der Einwohner – rund 600 – mitmachen müsste. Dazu müssten 3 bis 5 Millionen Franken fliessen. «Aber wir kennen die Zahlen erst, wenn die Leute Ja sagen. Dann können wir Geld jagen.» Auf die Frage, ob es allerdings bei wenigen Zusagen auch zu einem Projekt käme, antwortet Panian ausweichend: «Da gehen wir mit dem Flow. Wichtig ist im ersten Schritt, im Dialog mit dem Dorf, mit dem Gemeinderat zu sein.» Denkbar wäre auch, eine andere, kleinere Gemeinde zu suchen.

Die vom Gemeinderat erhoffte Diskussion am Stammtisch dürfte nicht ausbleiben. «Ich bin im Moment einfach noch zu blöd, um Fragen zu stellen», meinte ein Stimmbürger, nach den eher dürftigen ersten Informationen von drei Projektvertretern etwas überrumpelt. Er habe als AHV- und Pensionskassenbezüger bereits ein «Grundeinkommen», überlege sich aber mitzumachen. Ein anderer stellte sich vor, dank der Teilnahme ein Sabbatical – eine Auszeit – im Job einzulegen. Mehr Details folgen an einer Veranstaltung am 31. August. Ab dann können sich Interessierte verbindlich anmelden. Mitmachen kann aber nur, wer heute bereits in Rheinau wohnt. Das Projekt, das von einem eigens gegründeten Verein getragen wird, soll von einem Expertenteam wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden.

Mehr Infos unter: dorf-testet-zukunft.ch

Nachgefragt

«Eigentlich habe ich eine Minischweiz gesucht»

Rebecca Panian

Filmemacherin Rebecca Panian hat mit ihrem Projektteam die Gemeinde Rheinau aus rund 100 Bewerbern als «Grundeinkommensdorf» ausgewählt. Gestern stellte sie in der Mehrzweckhalle dar, wie die Utopie hier Realität werden soll – zumindest temporär. Die SN hatten davor mit ihr gesprochen. Je nach Anmeldungen bis Ende September soll über die Durchführung beschlossen werden.

Rebecca Panian, wieso fiel Ihre Wahl, die Idee des Grundeinkommens zu testen, ausgerechnet auf Rheinau?

Panian: Die meisten Bewerbungen kamen von Einwohnern der jeweiligen Gemeinden, einige von Gemeinderäten. Rheinau wurde beispielsweise von Gemeinderätin Karin Eigenheer angepriesen. Dadurch war Rheinau schon hoch oben auf der Prioritätenliste. Ich habe dann alle Dörfer recherchiert nach gewissen Kriterien: Wie gross sind sie, findet man sie sofort auf Google, ist die Gemeinde so repräsentativ wie möglich, nicht zu weit «weg vom Schuss». Eigentlich suchte ich eine «Minischweiz». Wir hatten einige interessierte Dörfer, aber Rheinau war von Anfang an die interessierteste und engagierteste.

Der Gemeinderat stand also von Anfang dahinter, aber diese Begeisterung «von oben» muss nun die Bevölkerung noch teilen. Kann das nicht ein Pro­blem sein später bei der Akzeptanz?

Nein, denn der Gemeinderat schlägt das ja jetzt nur vor. Am Ende entscheidet das Volk. Wir brauchen eine Mehrheit der Gemeindebewohner, und die basiert total auf Freiwilligkeit. Nachdem wir heute erstes Informationsmaterial verteilen konnten, dürfen wir am 31. August anderthalb bis zwei Stunden reden, wobei uns die Leute mit Fragen bombardieren können. Danach schalten wir online eine Liste, wo sich die potenziellen Teilnehmer am Projekt anmelden können. Und dort sehen wir dann, ob das die Leute auch wirklich wollen.

Warum glauben Sie denn, dass sich die Bürger, die 2016 zu 72 Prozent das ­bedingungslose Grundeinkommen ablehnten, nun hinter dem Projekt stehen?

Ich glaube, es gibt drei Kategorien von Bewohnern: Jene, die finden: «Toll, da mache ich gleich mit», und das andere Extrem, das findet, «ein totaler Seich». Und dann gibt es die mittlere Kategorie, die sagt: Ich bin skeptisch gegenüber dem Grundeinkommen, aber wir haben ein paar Probleme mit dem aktuellen System – warum nicht einmal testen? Und vielleicht wirkt sich das auch sehr positiv auf die Gemeinschaft aus. Das ist ja auch der Gag an einem Experiment. Ich stelle mir eine innovative Gemeinde vor, die offen ist für so Sachen … Das ist genau die Einstellung, die wir brauchen. Ob es hinhaut, weiss auch ich nicht.

Bei einem ähnlichen Projekt in Finnland erhalten die Teilnehmer knapp 600 Euro im Monat. Glauben Sie, 2500 Franken auf die Hand steigern bei ­jemandem die Arbeitsmotivation?

In Finnland ist es nicht wirklich ein Grundeinkommen und nicht vergleichbar, weil man von dem Betrag dort nicht wirklich leben kann. Das ist ein Pendant zu Hartz IV – sie wollten die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Bei uns soll der «Sockel» – eben das Grundeinkommen – gesichert werden. Wer 5000 Franken verdient und mitmacht, kann sich zum Beispiel umorientieren und kündigen, wonach er immer noch die 2500 Franken erhält. Gegenfrage: Gehen Sie nur wegen des Geldes arbeiten?

Sagen wir, die meisten arbeiten nicht nur zum Leben oder umgekehrt. Bei vielen liegt die Wahrheit wohl – je nach Phase im Job – irgendwo dazwischen …

Da stellt sich die Frage, wie ich leben will: Ich entschied vor sieben Jahren, mehr Zeit zu haben für mich, dafür weniger Geld. Das heisst, ich musste meine Lebenskosten reduzieren. Nun bin ich zufriedener denn je zuvor. Man hat eine beschränkte Lebenszeit, und jeder muss sich fragen: Wie will ich die verbringen, wofür will ich am Morgen aufstehen?

Aber unser Arbeitsmarkt ist doch zu starr strukturiert für solche «Auszeiten»? Wer nicht im Arbeitszyklus drin ist, hat es schwer, wieder hineinzugelangen.

Die Zahlen zeigen: Man könnte es heute schon finanzieren. Und die Fragen nach der Besteuerung des Einkommens und darüber, ob die verkrusteten Strukturen nicht angepasst werden müssten, ist so oder so eine Grundsatzdebatte wert. Gerade heute, wo Roboter immer mehr Arbeitsplätze übernehmen, muss man generell umdenken, oder? Es wäre eine Chance, auch positiv auf die Automatisierung zu schauen, die uns ja die mühsame Arbeit abnehmen soll. Denn der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Fragt sich: Wie reagieren wir darauf?

Interview: Mark Gasser

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