«Auf Augenhöhe des Betrachters»

Ein kolonialer Blick auf halb nackte Frauen: Kann das weibliche Selbstermächtigung sein? Fritz Franz Vogel findet Ja – und stellt in der ehemaligen Tigerfinklifabrik in Diessenhofen provokatives Bildmaterial aus.
Inmitten des verschleierten Antlitzes blickt ein waches Augenpaar in die Kamera. Der nackte Oberkörper der Frau liegt hingegen frei, ja wird den Betrachtenden geradezu angeboten: Das Foto prangt in Grossformat an der Wand der Ausstellung über koloniale Fotografie. Seit vergangener Woche kann diese in der ehemaligen Tigerfinklifabrik in Diessenhofen besucht werden, wo der Fotohistoriker Fritz Franz Vogel nicht nur kuratiert, sondern auch Kultur- und Bildwissenschaft betreibt. Dieser Tage steckt ein Buch zur kolonialen Fotografie in den letzten Korrekturen: «Post-Ko-lo-ni-al-wa-ren, aus den Kolonien postalisch eingeführte Lebens- und Genussmittel» heisst dieses. Einen Auszug davon bildet die aktuelle Ausstellung.
In drei Teilen werden Fotografien von 1880 bis 1920 gezeigt: aus dem arabischen Raum, aus Schwarz- und aus Südafrika. Während das im Probedruck vorliegende Buch nicht nur Porträts beinhaltet, sondern eine Geschichte der afrikanischen Körperfotografie nachzeichnet, fokussiert die Ausstellung auf die Darstellung von (zumeist jungen) Frauen der kolonialen Periode. «Das Thema ist in der heutigen Debatte rund um Verschleierung ziemlich aktuell», sagt Vogel. «Denn in der Entstehungszeit der ausgestellten Bilder war in den arabischen Ländern eine weit grössere Freizügigkeit vorhanden als heute.» Während die Abbildungen schwarzafrikanischer Frauen dokumentarischen Charakter haben, wirken die arabischen Inszenierungen sinnlich, ja gar erotisierend.
Medium Postkarte
Über 1500 Bilder befinden sich im Buch, rund 500 Exponate sind es an der Ausstellung. Neben der geografischen Triade sind die Fotos nach Posen, Motiven und Narrativen geordnet und kontextualisieren so das Abgebildete: Klischees wie Frauen mit Amphoren oder Haremsfenster erhalten durch die unterschiedlichen Darstellungen ihre bildgeschichtliche Dimension. Aktuelle Fotografiebücher aus Vogels Bibliothek ergänzen die Schau und zeigen die Fortsetzung der kolonialen Bildgeschichte, inklusive der Grosswildjägerei.
Das ausgestellte Medium der Postkarte gibt weitere Informationen über die Entstehungszeit und die Funktion der Bilder preis: So ist offensichtlich, wie die originalen Fotos nach Frankreich gebracht, dort als Karten veredelt und wieder in die Kolonien verschifft wurden, um als buntes Massenmedium erneut nach Europa zu gelangen. Der handschriftliche Kommentar auf der Rückseite bezieht sich allerdings selten auf das vorn Gezeigte, wie in Vogels Essay im Buch nachzulesen ist. Die Postkarte als Handelsware ist denn auch verantwortlich für das Wortspiel im Titel: «Post-Ko-lo-ni-al-wa-ren».
Während der Buchtitel ebenso bewusst provokativ wie die als Gag aufgelegten Mohrenköpfe im afrikanischen Teil der Ausstellung mit dem Begriff «Genussmittel» auch die Darstellung der Frauen meint, spricht sich der Kurator gegen eine blosse Objektifizierung der Abgebildeten aus. «Der Vorwurf, die Fotos seien damals ausschliesslich Ausdruck eines voyeuristischen Blicks des weissen Mannes, zeugt von einer eindimensionalen Sichtweise», so Vogel. Seine Analyse des historischen Bildmaterials sieht viel mehr eine weibliche Selbstermächtigung, einen ethnischen Stolz: «Der Blick der abgebildeten Frauen ist auf Augenhöhe des Betrachters, er macht sie zum Subjekt und die Karte zum Objekt.» Interessierte können dies aus nächster Nähe beurteilen: Die Ausstellung ist im März auf Anfrage zu besichtigen, das Buch erscheint voraussichtlich im Mai.