«Marsch des Lebens» auf dem Fronwagplatz in Schaffhausen: Wo wird Kritik zu Antisemitismus?

Erneut fand in Schaffhausen ein Gedenkmarsch für die Solidarität mit Israel und Juden statt. In einer Zeit, in der Antisemitismus immer mehr zunimmt in der Gesellschaft, ist er wohl wichtiger als zuvor. Aber genau deswegen fehlen an diesem Tag auch kritische Fragen.
Geht das? Kann man sich gegen Antisemitismus aussprechen und gleichzeitig, oft auch berechtigte, Kritik am Vorgehen des Staates Israel üben? Einerseits an dieses Menschheitsverbrechen «Holocaust» gedenken und gleichzeitig die Augen vor dem Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen verschliessen?
Es scheint eine Art Balanceakt zu sein, den der «Marsch fürs Leben», der am Montag in der Schaffhauser Altstadt stattfand, vollziehen muss. Erinnerung an ein Verbrechen, das sich nie wiederholen darf. So aufwühlend und wichtig die Geschichten an diesem Tag sind: Es gibt an diesem Tag auch Töne, die für viele nur schwer zu ertragen sein dürften.
Die Geschichte eines Überlebens
Die Sonne versinkt langsam hinter den Gebäuden, während die Menschen auf dem Fronwagplatz den Ausführungen von Uri Strauss lauschen. Der 85-Jährige wirkt fröhlich, lächelt nach und vor seinem Vortrag immer wieder – aber nicht währenddessen. Dort spricht er über eines der dunkelsten Kapitel der Menschheit: den Holocaust, den er selbst er- und überlebt hat, damals, vor 80 Jahren. «Wer heute nicht weiss, was früher war, der wiederholt die Fehler und der ist verloren», so Strauss. Zufall, Glück und der Mut von anderen retteten den damals Vierjährigen. Als 1944 Juden in einer Kindertagesstätte zusammengetrieben werden, entscheiden seine Eltern, dass sie ihren Sohn noch mal im zweiten Stock hinlegen lassen wollen, da er so müde war. Als die Nazis die Juden abholen, übersehen sie die Familie – die so überleben kann. Ein Onkel in der Schweiz besorgt gefälschtes Papier, womit sie fliehen können.





Es ist eine Geschichte, die aufrüttelt und betroffen macht. Der Fronwagplatz ist still wie ein Grab, während man der Stimme von Strauss lauscht. So ein Menschheitsverbrechen darf sich einfach nie mehr wiederholen, darin sind sich alle einig.
Kritik wird weggewischt
Dass Juden heute noch immer nicht unbedingt sicher leben können, merkt man alleine an den Sicherheitsvorkehrungen. Überall in der Menge sieht man ernst dreinblickende Männer mit Knöpfen im Ohr, unter deren Jacken sich Pistolen abzeichnen. Die Schaffhauser Polizei ist mit mehreren Einsatzkräften vor Ort.
Immer wieder laufen Menschen vorbei, werfen verächtliche Blicke auf die Israelflaggen, die geschwenkt werden, ab und an hört man «Free Palestine»-Rufe.
In ihrer Ansprache teilt die israelische Botschafterin Ifat Reshef deutlich etwa gegen den Internationalen Gerichtshof (IGH) aus. Dieser hatte am 21. November 2024 Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant und den Hamas-Führer Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri (Mohammed Deif) erlassen. Ausserdem war das Gericht im selben Jahr mehrheitlich zu dem Schluss gekommen, dass Israel mit seinem Vorgehen in den besetzten Gebieten gleich in mehreren Punkten gegen das Völkerrecht verstosse.

Als «nützliche Idioten» tituliert die Botschafterin die Richter. In der Menge wird zustimmend genickt, abseits schnappen ein paar Menschen, die nicht dazugehören, nach Luft. Ebenso bei der Aussage, dass Israel «alles dafür tut, die Zivilbevölkerung zu versorgen». Dass seit 60 Tagen keine Hilfslieferungen mehr in das Land gekommen sind, weil Israel diese blockiert, erwähnt sie nicht. Die internationale Kritik wird hingegen angesprochen – und weggewischt, teils wütend kommentiert.
Auslöser dafür war natürlich der Terrorakt vom 7. Oktober 2023, ein Tag, der auch heute irgendwie, wie der Holocaust, über der Veranstaltung schwebt. Etwa 1100 Israelis wurden laut dem israelischen Militär getötet, mehr als 250 in den Gazastreifen verschleppt. Ein Schock für die Welt und das Land, welcher bis heute wie ein Damoklesschwert über dem Land schwebt.
Wann wird aus Kritik Antisemitismus?
Ein Staat hat das Recht, sich zu verteidigen und zu wehren, das war nach dem Anschlag der Tenor der internationalen Gemeinschaft. Aber kann das Recht auf Selbstverteidigung über allem stehen? Diese Frage wird an diesem Tag weder gestellt noch beantwortet, sehr zum Missfallen einiger, die abseits der Veranstaltung stehen und keine Israel-Flagge schwenken und immer wieder den Kopf schütteln.
«Wenn ein Staat, dessen Möglichkeit zur Selbstverteidigung kritisiert wird, dann ist das Kritik an einem ganzen Staatswesen, und das Staatswesen ist ein jüdischer Staat.»
Geht das dann überhaupt? Das Vorgehen des Staates Israel zu kritisieren, aber sich auch gleichzeitig gegen Antisemitismus zu positionieren? «Wenn ein Staat, dessen Möglichkeit zur Selbstverteidigung kritisiert wird, dann ist das Kritik an einem ganzen Staatswesen und das Staatswesen ist ein jüdischer Staat. Dies bedingt automatisch Antisemitismus», sagt Strauss im Gespräch mit uns nach der Veranstaltung. Stimmen, die Israelkritik und Antisemitismus trennen, kommen auf der Veranstaltung keine zu Wort.

Nach der Veranstaltung sitzen wir mit ihm zusammen. Er hat die Beine übereinandergeschlagen, lächelt immer wieder unter seinem weissen Bart während unseres Gesprächs, welches schnell zur einer hitzigen Diskussion wird. «Die Hamas will nur zerstören, was anderes kann sie nicht», sagt er. Das Vorgehen des Staates Israel sei daher gerechtfertigt. «Als Atombomben fielen, sprach keiner von Genozid. Als im Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge bombardiert wurden, sprach auch keiner davon.» Bei Israel sei man da schnell dabei. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International würde wiedersprechen. In einem im Dezember 2024 veröffentlichten Bericht benennt sie das Vorgehen Israels im Gazastreifen klar als einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung.
Und was ist mit der Zivilbevölkerung? 90 Prozent der Bevölkerung sind vertrieben worden, Schätzungen, etwa von Amnesty International, gehen von 110’000 Verletzten und über 50’000 Toten in Gaza aus. Und: Warum lässt Israel dann die Nahrung nicht durch? Strauss ist überzeugt, dass die Hamas diese einsammeln und für die eigenen Pläne nutzen würde. «Die Hamas kümmert sich doch keinen Deut um die Zivilbevölkerung!» Es brauche den Druck, damit die letzten Geiseln freikommen würden. Dann erst gebe es Frieden.
Für viele endet die Veranstaltung wie ein buntes Fest. Eine Gruppe tanzt auf dem Fronwagplatz mit Israelflaggen, andere unterhalten sich herzlich – und einige Fragen bleiben letztlich unbeantwortet.