Auf dem Fronwagplatz umarmt Wolfgang Weber die Schaffhauser: «Ich würde auch Putin in den Arm nehmen»

Damiana Mariani | 
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Viele sind ihm schon begegnet: Fast jeden Samstag steht Wolfgang Weber in Schaffhausen auf dem Fronwagplatz und bietet Gratis-Umarmungen an. Wer ist dieser Mann?

Menschen überqueren den Fronwagplatz. Manche gehen zügigen Schrittes, andere schlendern, bleiben stehen. Es ist ein buntes Treiben. Mittendrin steht Wolfgang Weber mit einem Schild in der Hand, darauf steht: «Free Hug». Hält Weber Augenkontakt, breitet der gebürtige Winterthurer einladend die Arme aus. Manche Passanten gehen mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen an ihm vorbei, andere machen gar einen umständlich-grossen Bogen um ihn herum, aber dann gibt es auch jene, die direkt auf ihn zusteuern. Überraschend viele nehmen seine Einladung an.

Die grösste Überwindung

Wolfgang Weber verteilt mittlerweile seit 19 Jahren gratis Umarmungen. Darauf aufmerksam geworden ist er auf einer Studienreise in Mexiko. Eine Teilnehmerin schickte ihm ein Video, das den Erfinder des «Free Huggings», Juan Mann, in Aktion zeigte. Die ersten 15 Minuten kam kein Mensch zu ihm, aber dann öffneten sie sich und er sich mit ihnen. «Mich hat das berührt», sagt Wolfgang Weber bei einem Glas stillem Wasser im Caffè Spettacolo. «Von da an wollte ich das auch machen.» Doch habe er sich nicht getraut, das, wonach sein Herz ihn gedrängt habe, in aller Öffentlichkeit auszudrücken oder dazu zu stehen. «Was würden nur die Leute denken, vielleicht würden sie mich als Spinner betrachten.»

«Ich bin kein einfacher Mensch. So war es schon immer.»

Es brauchte Zeit und einen weit entfernten Ort. In Tokio, Japan, ging Weber dann erstmals mit einem Schild auf die Strasse, welches zu «Free hugs» in japanischer Schrift aufrief; zusammen mit seinen Schülern, mit denen er während eines Workshops Verhaltensregeln im Zusammenhang mit «Free Hugs» übte. Seither hat Wolfgang Weber seine Umarmungen in China, Hongkong, Russland, Frankreich oder Italien angeboten. Und seit 2007 auch bei uns. Erst in Zürich, dann in Schaffhausen: «Das hat mich am meisten Überwindung gekostet, mich dort zu offenbaren, wo ich zu Hause bin.» Fast jeden Samstag steht er auf dem Fronwagplatz und ruft gut eine Stunde zum Umarmen auf.

Die «Free Hugs»- Bewegung

Der Australier Juan Mann startete zu Beginn der Nullerjahre in der Fussgängerzone von Sydney, Gratis-Umarmungen zu verteilen. Bis ihm die Polizei ein Verbot auferlegte. Durch eine Unterschriftenaktion gelang es Mann aber, «Free Hugs» offiziell zu legalisieren und salonfähig zu machen. Mittlerweile haben «Free Hugs»-Aktionen eine Art Kultstatus erreich, auf sozialen Plattformen finden sich haufenweise gepostete Videos von «Free Huggers» und ihrer Botschaft, Liebe zu verbreiten.

«Umarmungen werden gebraucht, wo die Menschen in Not sind. Das ist überall, auch im Westen, wenn nicht besonders im Westen», sagt der 71-Jährige. Er trägt vier Ketten um seinen Hals, zwei tibetische aus Holzperlen, zwei mit Swarovski-Kristallen.

Viele würden seinen Umarmungen mit Dankbarkeit begegnen, bei manchen Umarmten gar Tränen fliessen. Eine ältere Dame, deren Mann gestorben war, wollte ihn einst fast nicht mehr loslassen. Ein Manager in China lief erst mehrmals an ihm vorbei, ehe er sich auf die Berührung einliess und sich schliesslich mir den Worten bedankte, dies sei seine erste richtige Umarmung gewesen.

Zielscheibe für Skeptiker

In den vergangenen Jahrzehnten kam es so zu vielen berührenden Momenten, aber auch zu unwillkommenen Begegnungen: Sektenanhänger, die ihn des Teufels beschimpften, Polizisten, die ihn während der Coronapandemie des Fronwagplatzes verwiesen und ihm ein Platzverbot auferlegten. In Taiwan habe ihn ein Mann auf offener Strasse gar angespuckt. «Ich hätte ihn dennoch umarmt», sagt Wolfgang Weber. Dies ist sein oberstes Gebot: Nicht über die Menschen urteilen. Für alle offen zu sein. «Ich würde auch Putin umarmen, auch wenn ich mich einen Pazifisten nenne.»

Friedensdemos dagegen bleibe er fern, er bevorzugt seine Umarmungskultur als Akt des Friedens und Form der Therapie, für sich selbst und die Mitmenschen. «Die Umarmung ist die innigste Berührung überhaupt. Wenn wir uns umarmen, verbinden wir uns. Und so sehe ich das: Wir alle brauchen einander.» Das Innehalten, das Sich-Wahrnehmen, das Sich-die-Hand geben sei wichtig: «Wir alle haben dieselben Bedürfnisse. Wir sind alle gleich.»

Seit 2000 führt Wolfgang Weber in Flurlingen eine Praxis mit einem breiten spirituellen Angebot wie Schamanismus, Medialität, Farbtherapie und Familienstellen. Davor hat er als Primar- und Reallehrer sowie als Schauspieler gearbeitet und eine Zeit lang Psychologie studiert. «Ich war immer auf der Suche nach mir selbst und bin es heute noch», gesteht Weber. «Ich bin kein einfacher Mensch. So war es schon immer. Ich war als Kind sehr sensibel, fühlte mich oft missverstanden.»

Dass manche Menschen seiner Arbeit skeptisch gegenüber stehen, ihn gar als Scharlatan abtun, ist Weber bewusst. «Es ist für mich in Ordnung. Ich respektiere das Misstrauen anderer und ich respektiere es, dass nicht jeder etwas mit spirituellen Praktiken anfangen kann.» Auch sei es in Ordnung, wenn jemand keine Umarmung wünsche. Doch gebe er sie gerne all jenen, «die sich dafür öffnen und den Wert der Berührung schätzen».

Eine innere Verpflichtung

Auf seiner Website veröffentlicht Wolfgang Weber alle gefilmten «Free Hugging«-Aktionen von sich. Er möchte die Menschen dazu verleiten, es ihm gleichzutun. In seinen Anfängen als «Free Hugger» hat er deshalb ein Netzwerk gegründet, das «Free Hugs Network», dem sich jeder anschliessen darf. «Es sind vor allem Menschen, die wissen, was es bedeutet, wenn man nicht mehr weiterkommt, konfrontiert mit Schicksalsschlägen, Menschen wie ich.» Manche würden auch nur aus Spass mitmachen und dann wieder damit aufhören.

Für Weber dagegen ist aus dem Schenken von Umarmungen eine innere Verpflichtung geworden. Er stellt sich mit dem Schild auch dann hin, wenn es ihm mal nicht gut geht.

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