Nicht nur Kindersirup und Beruhigungsmittel

Tobias Bolli | 
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Auch in der Bahnhofsapotheke in Schaffhausen macht sich die Knappheit bemerkbar- Bild: Tobias Bolli

Kaum je waren die Apotheken mit einer derart grossen Verknappung konfrontiert. Eine Entspannung ist nicht in Sicht.

Scrollt man auf der Website des Bundes durch eine Liste der meldepflichtigen Medikamente, stösst man immer wieder auf den gleichen Hinweis: «Beschränkt lieferbar. Die Versorgung des Marktes erfolgt mit Pflichtlagerware.» Und: «Wichtiger Hinweis: Keine Hamsterkäufe tätigen.» Von Actilyse (ein Injektionspräparat) bis hin zu Zyvoxid (ein Antibiotikum) sind auf acht Seiten zahlreiche knapp gewordene Arzneimittel gelistet – wobei nicht-meldepflichtige Medikamente, und damit die Mehrheit der Arzneimittel, noch nicht einmal berücksichtigt werden. Die Liste lässt eine kritische Situation vermuten, die sich auf Nachfrage bestätigt. «Die Lieferengpässe bei Arzneimitteln stiegen über die letzten Jahre stetig an und haben sicher aktuell einen ersten Höhepunkt erreicht», so Nadja Müller, Kantonsapothekerin für den Thurgau und Schaffhausen.

Mit grossem Aufwand liessen sich hie und da noch Lücken schliessen, durch die Einfuhr von im Ausland zugelassenen Alternativen oder wenn es den zuständigen Apothekern gelingt, selbst vergleichbare Arzneimittel herzustellen. Eine Erhöhung der Lagerbestände für noch verfügbare Medikamente sei kurzfristig vielleicht hilfreich, aber mit wirtschaftlichen Konsequenzen für die Betriebe verbunden. Die Verknappung wirke sich auch auf die Ressourcen der Mediziner aus, da diese bei der Therapieverordnung immer wieder gezwungen würden, von den Leitlinien abzuweichen und zeitaufwendig neue Verordnungen zu entwickeln. «Schlussendlich führt das bei allen beteiligten Fachpersonen zu einem enormen Mehraufwand und höheren Kosten», fasst Müller zusammen.

Kindersirup ist Mangelware

Die Verknappung wirkt sich ganz konkret auch vor Ort in den Apotheken aus. «Ja, wir haben einen Mangel. Bei vielen Medikamenten finden wir eine Lösung, gewisse Arzneimittel können wir aber nicht ersetzen», sagt Lea Bolliger, Geschäftsführerin der Bahnhofsapotheke in Schaffhausen. Oft müsse man sich mit den zuständigen Ärzten austauschen und aufwendig überprüfen, welcher Wirkstoff in welcher Form doch noch lieferbar oder austauschbar sein könnte. Bei alledem sei viel Improvisation gefragt. «Manchmal greifen wir auf ausländische Produkte zurück, doch beispielsweise Betäubungsmittel können wir nicht aus anderen Ländern importieren.» Schwierig sieht es derzeit mit einigen Diabetes-Medikamenten aus. «Nur wer sie vorbestellt hat, bekommt für gewöhnlich noch eine Ration.» Auch Beruhigungsmittel würden kaum mehr geliefert. Laut Nadja Müller sind zudem viele gängige Produkte betroffen, etwa der Ibuprofen-Kindersirup. Nicht zuletzt komme es immer wieder zu Engpässen bei Spezialtherapien, gerade in der Krebsbehandlung.

Zur Schonung der Bestände behelfen sich Apotheken manchmal damit, mehrere niedrig dosierte Varianten eines Medikaments zu verwenden, wenn die höher dosierte Variante des gleichen Medikaments nicht vorhanden ist. Das sei in der jetzigen Situation aber kaum möglich. «Wenn ein Produkt fehlt, dann fehlt oft auch dessen schwächere Dosierung», sagt Bolliger.

Keine Aussicht auf Besserung

An eine vergleichbare Mangellage kann sich Bolliger nicht erinnern. «Jetzt fehlt schon etwas sehr viel», sagt sie. Und: «In diesem Ausmass waren wir noch nie betroffen.» Marco Grob, gleichzeitig leitender Apotheker in der Volksapotheke zum Zitronenbaum und Präsident der Apothekervereinigung Schaffhausen, macht ähnliche Erfahrungen. «Aktuell sind mehr Medikamente als normal nicht lieferbar.» Für die Apotheken sei das grundsätzlich keine neue Situation – man sei sich Mangellagen gewohnt und komme gut mit ihnen zurecht – , doch mit einer so grossen Verknappung sei man noch nicht konfrontiert gewesen.

Eine Aussicht auf Besserung besteht derzeit nicht, im Gegenteil: «Im Moment wird sich die Lage weiter zuspitzen ohne Aussicht auf Entspannung», schreibt Kantonsapothekerin Nadja Müller. Die Gründe dafür seien vielfältig. In den letzten Jahren sei die Herstellung alltäglicher Arzneimittel ins weitentfernte Ausland verlegt worden. Die Schweiz und Europa hätten sich von Herstellern in China und Indien beinah komplett abhängig gemacht. Noch spüre man deswegen die Auswirkungen der Pandemiebekämpfung in China. Auch der Krieg in der Ukraine wirke sich negativ aus – nicht so sehr auf die Verfügbarkeit der Wirkstoffe, aber auf das Verpackungsmaterial.

«Die Lage wird sich weiter zuspitzen.»

Nadja Müller, Kantonsapothekerin Thurgau und Schaffhausen

Nicht zuletzt sei die Schweiz mit ihrem kleinen Arzneimittelmarkt bei Herstellern wenig attraktiv. Diese müssen sich an die teils abweichenden Vorgaben der Schweizerischen Zulassungsbehörde halten, könnten nur vergleichsweise bescheidene Chargen herstellen und müssten die Patienteninformationen in allen drei Landessprachen abdrucken. «Aufgrund dieser Tatsachen geschieht es immer häufiger, dass Zulassungen für Arzneimittel für die Schweiz zurückgezogen werden und so bei uns im Sortiment verschwinden.»

Lösungsansätze existieren

Noch ist die Arzneimittelversorgung (ausserhalb von Krisenzeiten) Sache der Kantone. «Das ist, bei aller Liebe zum Föderalismus, eine nicht mehr zielführende Regulierung», sagt Nadja Müller. «Die Arzneimittelversorgung der Schweiz muss aus meiner Sicht längerfristig übergeordnet gelöst werden.» Auch Marco Grob findet, dass zugrundeliegende Probleme auf kantonaler «oder noch eher auf nationaler Ebene» angegangen werden sollen.

Dort scheint sich etwas zu bewegen. Im Februar 2022 hat das Bundesamt für Gesundheit einen Bericht über die Sicherheit der Arzneimittelversorgung vorgelegt. Eine Gruppe mit Protagonisten der Industrie, des Bundes und der Kantone arbeitet derzeit an konkreten Lösungsmassnahmen. Zur Diskussion steht ein Ausbau der Lagerbestände sowie eine Ausweitung der Meldepflicht auf weitere Medikamente. Mitte 2024 sollen die Massnahmen laut BAG umgesetzt werden. Auch dann wird es wohl noch eine Weile dauern, bis sie möglicherweise Wirkung zeigen.

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