«Schöne Berge, Heidi, Käse, fertig»

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Wie gelingt gutes Tourismusmarketing? Mit Selbstironie und Authentizität, sagt der neue Gemeindepräsident von St. Moritz, Christian Jott Jenny. Ein Rundgang durch Schaffhausen.

von Isabel Heusser und Daniel Jung

Es gibt bessere Voraussetzungen, um eine Stadt zu erkunden. Das Thermometer zeigt mit viel Optimismus 13 Grad, seit Stunden fällt Regen. Christian Jott Jenny ist trotzdem bestens gelaunt. Um 10 Uhr steigt er beim Parkplatz vor dem Schaffhauser Münster aus seinem Auto, das Handy am Ohr, noch schnell ein Telefonat, bevor es losgeht. Dann öffnet er seinen Regenschirm, ein fester Händedruck, und fragt: «Wohin gehen wir?»

Sitzbankaktion, Stars in Town, Blauburgunder - das hält Christian Jott Jenny von Schaffhausen

Jenny hat eine über dreistündige Autofahrt hinter sich. Er ist direkt aus dem Oberengadin gekommen – seit Anfang des Jahres ist er Gemeindepräsident von St. Moritz. Seine Wahl war eine kleine Sensation. Denn Jenny ist Polit-Neuling, Karriere gemacht hat der 40-Jährige als Tenor und Entertainer. In St. Moritz kannte man den Zürcher vor allem als Initiator des Festival da Jazz, das 2008 zum ersten Mal stattfand. Die SN haben ihn darum gebeten, einen Rundgang durch Schaffhausen zu machen – aus den Augen eines Tourismuskenners. Zwar kümmert sich mit der Engadin St. Moritz Tourismus AG unter der Leitung von CEO Gerhard Walter ein eigenes Unternehmen um die Vermarktung einer der berühmtesten Feriendestinationen der Welt. Aber als Gemeindepräsident von St. Moritz sei man automatisch auch Touristiker, sagt Jenny.

Im Klassenlager am Rheinfall

Erste Station in Schaffhausen: die Tourismusinformation. Auf dem Weg dorthin überqueren wir den Herrenacker. Vor dem Stadttheater bleibt Jenny stehen, blickt sich um. «Schaffhausen hat eines der schönsten Theater der Schweiz, wie ein kleines Opernhaus», sagt er. «Okay, es erinnert etwas an Naziarchitektur, aber sonst ist es wirklich wunderbar, ein Theater dieser Grösse fehlt in Zürich.» Schon viele Male ist er hier aufgetreten. «Für mich ist es jedes Mal ein Highlight.» Das Schaffhauser Publikum, sagt Jenny, sei ein ganz ­Besonderes: «Man merkt hier, dass nicht die Schweiz rundherum ist. Ich spüre eine Weltoffenheit.»

Jenny ist Schaffhausen-Fan, schon lange. Angefangen habe seine Liebe zur Region im Klassenlager am Rheinfall, in der Jugendherberge Dachsen. «Der Rheinfall ist ja quasi euer Matterhorn.» Alles sei schön gemacht da, «der Weg am Fluss entlang, der Lift vom Bahnhof aus, sehr ­attraktiv». Schon zitiert er Gerhard Blocher, den 2016 verstorbenen Hallauer Pfarrer und Bruder von SVP-Chefstratege Christoph Blocher: «Der Rheinfall rauscht nicht, er singt!» Jenny lacht. Dieses Wahrzeichen interessiert ihn aber weniger als das Stars in Town. «Etwas vom Grandiosesten, was es gibt», sagt er. «Deswegen kommen die Leute von Zürich nach Schaffhausen, was selten ist, denn für die Zürcher ist ja schon Winterthur weit weg.» Er selbst war schon viele Male Gast am Festival.

«Früher konnte man diesen Wein nicht trinken, da war man nahe bei Dignitas.»

Christian Jott Jenny über Deutschschweizer Wein

Im Tourismusbüro kommt Jenny ins Staunen. «Das alte Gebälk, das etwas zu ­erzählen hat, die hohen Räume, dazu der grosse Bildschirm, das finde ich super. Auch das hier ist grossartig», sagt er und zeigt auf die Weintheke. «Alles, was ­authentisch ist, kommt gut an.» Der Schaffhauser Wein schmeckt ihm. «Wie sich die Qualität der Deutschschweizer Landweine in den letzten Jahren verändert hat, ist ­unglaublich», sagt er. «Früher konnte man diesen Wein nicht trinken, da war man ja nahe bei Dignitas. Das ist heute ganz ­anders.» Dann wirft er einen Blick auf die Lounge mit Rattanmöbeln neben dem Eingang und lacht. «Über dieses unmögliche Design müsste man mal diskutieren, aber sonst ist das hier wirklich gut gemacht.»

Mit dem Rollstuhl in den Stazersee

Jenny ist ein charmanter Gesprächspartner, ein eloquenter Redner, der gern Superlative verwendet, wenn ihm etwas gefällt. Als Künstler mag er es bissig. In seinem ­Lebenslauf steht: «Jennys Kunst beruht auf der Erkenntnis, dass das Erhabene haarscharf neben dem Lächerlichen und Peinlichen liegt.» Darin kennt er sich aus. Vor zwei Jahren drehte er ein Video, in dem sein Alter Ego, der «Gesellschafts-Tenor» Leo Wundergut, Werbung für St. Moritz macht. Im Film preist er im weissen Jackett und mit übergrosser Brille den Flugplatz Samedan als «idealen Platz für öffentliche Bestrafungen» an, lässt seinen Künstlerkollegen an eine Pferdekutsche angebunden auf dem Asphalt mitschleifen, und zum Schluss fährt ein Mann in einem brennenden Rollstuhl schreiend in den Stazersee. Das pure Gegenteil der heilen Welt, als welche Touristiker die Schweiz gerne verkaufen. «Langweilig», sagt Jenny. Er freut sich noch heute über das Video. «Ich würde es wieder genau so machen.» Tourismuswerbung, ist er überzeugt, soll provozieren, oder noch besser: selbstironisch sein. «Wenn es gelingt, mit Klischees zu spielen, kommt das gut an.» St. Moritz kämpfe ­damit, dass es von vielen Leuten als arrogant wahrgenommen werde. «Dem muss man mit Witz begegnen.»

Keine Liebe für die Sitzbank-Aktion

Richtung Bahnhof geht es über den Fronwagplatz. Er ist gesäumt von den Bänken, die vor Kurzem als Sommeraktion aufgestellt und von Gewerbe, Vereinen und Privaten gestalteten wurden. Erst fallen Jenny die Bänke gar nicht auf. Dann bleibt er vor zwei Exemplaren stehen und runzelt die Stirn. «Das soll die Stadt aufwerten?», fragt er. «Das hat Zürich mit seinen angemalten Löwen und Kühen besser gemacht», findet er. «Sieht aus, wie bei einer miserablen ­Gewerbeschau, wo seit 20 Jahren nichts Neues mehr erfunden wurde. Nicht attraktiv, nicht originell.» Später findet er dann doch noch ein paar Sitzbänke, die ihm ­gefallen. «Es kommt halt sehr drauf an, wie sie gestaltet sind.»

Der Bahnhof beeindruckt Jenny nicht besonders. «Ein typischer deutscher Provinzbahnhof, Durchschnitt halt», sagt er. «Okay, wir sind nicht in einer Grossstadt, aber ein bisschen liebevoller wäre schön. Immerhin kann man hier fast alles kaufen, was man braucht.» Wir gehen weiter Richtung Munot, durch die Vordergasse. Es regnet noch immer; die wenigen Touristen, die jetzt unterwegs sind, ducken sich unter ihre Schirme. Die Altstadt wirke belebt, ­findet Jenny. Er erzählt vom St. Moritzer Dorfkern, wo einheimische Gewerbler ihre ­Läden schliessen müssen, weil die Kundschaft fehlt. Übrig bleiben die Luxusboutiquen, die nur die Klientel aus den Fünf-Sterne-Hotels und den Villen ­an­- ziehen und in der Nebensaison geschlossen sind. «Ein grosses Problem», sagt er.

«Was haben wir denn noch zu ­bieten ausser dem Bank­geheimnis?»

Christian Jott Jenny

Am Tourismus, sagt Jenny, hänge im Oberengadin alles. Hier sind Spezialisten eigens dafür angestellt, dafür zu sorgen, dass die Destination auf Google möglichst prominent erscheint. «Daran führt kein Weg mehr vorbei», sagt er. Es funktio-niert. Wer im Google-Suchfeld «indische Hochzeit» eingibt, findet unter den Topplatzierungen Links zum grossen Fest, das ­Anfang des Jahres in St. Moritz stattfand. Auch Präsenz auf Online-Plattformen wie Tripadvisor oder Booking.com seien ­unverzichtbar. Ganz grundsätzlich sei Tourismus wichtig für die ganze Schweiz, seine Bedeutung dürfe nicht unterschätzt werden. «Sonst haben wir ja nicht viel hier», sagt er. «Was haben wir denn noch zu ­bieten ausser dem Bankgeheimnis? Das ­haben wir ja auch noch verloren. Wir haben Dienstleistungen, ­Sicherheit, schöne Berge, Heidi, Käse, ­fertig.»

«Der Rhein ist halt international»

Während des Aufstiegs zum Munot ­erzählt Jenny von seinen Lieblingsrestaurants in Schaffhausen. Er schwärmt von der Bergtrotte Osterfingen – und von der 2017 geschlossenen Fischerzunft. «Ein­ ­echter Verlust», sagt er. Als das Inventar liquidiert wurde, stand er frühmorgens Schlange, um einen Teil der Garderobeneinrichtung zu ergattern.

Der Munot wirkt verlassen. Die Damhirsche haben sich ins Trockene verzogen. Als wir Jenny darauf aufmerksam machen, dass der Platzhirsch jeweils nach dem Stadtpräsidenten benannt ist und darum aktuell Peter heisst, entfährt ihm ein «Ist nicht wahr!»

Die Zinne wirkt jetzt, ohne eine Menschenseele und mit geschlossenem Kiosk, nicht besonders einladend. Jenny stört es nicht. Sofort geht er Richtung Mauer und blickt auf den Rhein Richtung Bodensee. «Ich beneide euch unendlich um den Rhein», sagt er. Selbstverständlich sei er schon darin geschwommen. Was ist denn mit den Oberengadiner Bergseen, mit denen Engadin Tourismus Werbung macht? «Alles wunderbar», sagt er. «Aber der Rhein ist halt international.» Dann schaut er auf die Altstadt herunter. Er ist begeistert. «Unglaubliche Häuser, un­glaublich Dächer», sagt er. «Wird denn diese Altstadt gut genug angepriesen?» Das Potenzial für eine erfolgreiche Vermarktung wäre da, findet er. «Aber man kann den Leuten das Interesse halt nicht aufdrängen.»

Der Weg vom Munot zurück in die Altstadt führt durch die Weinberge. Ein asiatisches Paar mit Fotoapparat kommt uns entgegen. Jenny grüsst sie freundlich. Auch der Reisegruppe mit Kopfhörern im Ohr, der wir später begegnen, nickt er zu. «Touristen sollen sich willkommen fühlen», sagt er.

Das zeigen, was man hat

Zum Abschluss unseres Rundgang ­gehen wir Richtung Museum zu Allerheiligen. Vor dem Mosergarten ruft Jenny plötzlich: «Da vorne ist die IWC, oder? Grandiose Marke! Die erzählt eine Geschichte.» Er selbst aber trägt keine Uhr.

Im Kräutergarten des ehemaligen Klosters bleibt er stehen. «Wunderbar», sagt er. «Hier war ich noch nie.» Dann will er unbedingt den Kreuzgang sehen. «Schön wie friedlich es hier ist.»

Bald ist Mittag, der Rundgang beendet. Zeit für ein Fazit. Kreuzgang und Kräutergarten haben Jenny am besten gefallen – beide zählen nicht zu den meistgepriesenen Sightseeing-Tipps für Tagestouristen. Was Schaffhausen denn tun könne, um mehr Touristen vom Rheinfall in die Stadt zu ­locken? «Authentisch sein», sagt er. «Und das zeigen, was man hat, auch wenn es vor allem altes Zeugs ist.»

Bei der Werbung sollte man nicht zu sehr übertreiben, findet Jenny. Den Slogan «Schaffhausen. Ein kleines Paradies» hält er für wenig originell. Ein Patentrezept habe er aber nicht bereit.

Wieder ein Blick aufs Handy. Gleich wird Jenny seinen Amtskollegen Peter Neukomm zum Mittagessen treffen. Danach geht es zurück nach St. Moritz.

Entertainer, Festivalgründer und Gemeindepräsident

Christian Jott Jenny (40) ist seit ­ 1. Januar 2019 Gemeindepräsident von St. Moritz. Er hatte sich im zweiten Wahlgang gegen den bisherigen ebenfalls parteilosen Amtsinhaber Sigi Asprion durchgesetzt und damit die Politik im Oberengadiner Nobelkurort durchgeschüttelt – sein Vorgänger hatte mit einer stillen Wiederwahl gerechnet. Politische Erfahrung hat Jenny keine, schon im Wahlkampf provozierte er mit frechen Sprüchen: «St. Moritz ist am Arsch», sagte er letztes Jahr in einem Interview. Das Dorf müsse innovativer werden, sich neu erfinden.

Stimmrecht für Ausländer

Als Gemeindepräsident ist er Leiter der Gemeindeverwaltung und zuständig für die Finanzen. Er hat Grosses vor – und sorgte mit seinen Plänen für Aufregung: Jenny will alle Oberengadiner Gemeinden fusionieren und Ausländern mit Niederlassungsbewilligung C das kommunale Stimmrecht verleihen. St. Moritz hat einen Ausländeranteil von rund 40 Prozent; die meisten sind im Gastgewerbe tätig.

Aufgewachsen ist Jenny in Zürich. Der klassisch ausgebildete Tenor gründete schon während seines Studiums an der Zürcher Hochschule für Musik und Theater seine erste Jazzband. Zehn Jahre lang lebte er in Berlin.

Jenny steht seit Jahren als Sänger und Entertainer auf der Bühne und hat mit seiner Produktionsfirma mehrere Bühnenstücke geschaffen. Besondere Bekanntheit erlangte Jenny mit seinem Alter Ego, dem «Gesellschafts-Tenor» Leo Wundergut, gekleidet im weissen Anzug, mit Fliege und grosser Brille und während seiner Auftritte gern ­begleitet von einem weissen Pudel.

2007 gründete Jenny das Festival da Jazz in St. Moritz und holte zusammen mit Rolf Sachs Stars wie Diana Krall, Chick Corea, Randy Crawford und Ludovico Einaudi ins Oberengadin. Dieses Jahr wird unter anderem Marla Glena auftreten.

Jenny lebt in St. Moritz. In der Exekutive hat er eine Kollegin aus der Region: Regula Degiacomi ist gebürtige Schaffhauserin und Gemeinde-Vizepräsidentin von St. Moritz. (heu)

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