Gedenken an den 1. April 1944 – den Tag, an dem Schaffhausen angegriffen wurde

Mark Liebenberg | 
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Die verwundete Stadt: Eine Aufnahme der Schweizer Luftwaffe vom Nachmittag des 1. April 1944 zeigt Feuersbrünste im Bereich Kammgarn-Klosterviertel. Archivbild / zvg

Die irrtümliche Bombardierung der Stadt hat sich wie kaum ein zweites Ereignis im kollektiven Gedächtnis ihrer Bewohner eingebrannt.

Es ist ein frühlingshafter Morgen an jenem 1. April 1944. Ein Samstag, die Sonne scheint. In Büros, Amtsstuben und in den Geschäften wird vormittags noch gearbeitet, Hunderte Schulkinder besuchen den Unterricht. Auf dem Herrenacker ist der Wochenmarkt soeben zu Ende gegangen. Auf dem Bahnhof herrscht Hochbetrieb. Der Krieg, der nunmehr seit viereinhalb Jahren in Europa tobt, scheint in Schaffhausen im Moment weit weg. Und doch sollte er an diesem Morgen die Grenzstadt im Norden der neutralen Schweiz mit seinem schrecklichen Antlitz überziehen.

Manche Leute blicken neugierig gen Himmel, als kurz nach 10.15 Uhr erstmals ferner Motorenlärm hörbar ist. Kriegsflugzeuge überfliegen von Norden her die Grenzregion. Solche Überflüge von alliierten Fliegerstaffeln sind in diesen Tagen nichts Aussergewöhnliches. Man wendet sich also wieder seinen alltäglichen Verrichtungen zu, als die dröhnenden Geräusche in Richtung Südosten verebben.

Nichts Böses ahnen die Schaffhauserinnen und Schaffhauser denn auch, als wenig später – um 10.39 Uhr Fliegeralarm ertönt. Die 14 über das Stadtgebiet verteilten Alarmsirenen heulen dieser Tage oft. Bis zum Kriegsende werden in der Stadt 544 Fliegeralarme gezählt. Während in den Schulhäusern die Lehrer ihre Schützlinge vorschriftsgemäss in die Keller bringen, wollen viele Menschen in der Stadt nun erst recht die schweren Maschinen hoch im Himmel sehen, wenn sie schon so direkt über die Stadt donnern. Fenster werden ­geöffnet, viele gehen extra ins Freie, Leute bleiben auf den Strassen und Plätzen stehen, um die Bomber besser zu sehen.

Eine erste Staffel überfliegt nun den Luftraum über der Stadt. Niemand weiss, dass dies eine Vorhut ist, dass ihr weitere Bomberstaffeln folgen werden – Bomber auf Zerstörungskurs. Als sich von ferne aus dem Süden her eine zweite Staffel nähert, sind sehr dumpf plötzlich Detonationen aus dem Raum Schlatt und Paradies zu hören. Es ist nun 10.50 Uhr. Viele Augenzeugen erinnern sich später, dass sie auch etwas Seltsames gesehen haben, das wie «fallende Christbäumchen» ausgesehen habe.

Den vollen Ernst der Lage beginnen die Stadtbewohner erst zu erahnen, als sich um 10.55 Uhr eine weitere Fliegergruppe nähert. Dann geht alles sehr schnell. Jeder Augenzeuge wird sein Leben lang den Moment nicht vergessen, als es plötzlich ringsherum fürchterlich knallt. Das säuselnde Geräusch fallender Bomben, heftige Explosionen, Pflastersteine fliegen in die Luft, Scheiben bersten und Glasscherben übersäen die Gassen. Sofort wüten schlimme Feuersbrünste, Rauch überall. Vierzig Sekunden lang entladen die Bomber ihre tödliche Fracht über der Stadt Schaffhausen.

Wie mag es für die Zeitzeugen in den ­Sekunden und Minuten unmittelbar nach dem Angriff gewesen sein? Die getroffene Stadt taumelt. Manche Augenzeugen berichten von einer gespenstischen Stille. Menschen, die jetzt aus Schutzkellern herauskommen, berichten von verstörenden Bildern. Manche sehen Teile ihrer Heimatstadt in Trümmern, auf den Gassen der Altstadt gibt es metertiefe Krater, Scherben und Trümmer überall. Auf der Bahnhofstrasse liegen leblose Körper. Wie viele Mitbürger mögen unter den Trümmern der vielen, teilweise stark getroffenen Gebäude liegen? Auf den nicht wenigen Fotografien, die an diesem Tag gemacht werden, scheint aus manchem Gesicht pures Entsetzen zu sprechen. Wasserleitungen sind geborsten, Elektrizitäts- und Telefonleitungen sind tot. Mit einem Schlag hatte der Krieg die Stadt Schaffhausen mit erbarmungsloser Härte heimgesucht. Verwundet raffen sich ihre Bewohner auf – und tun, was getan werden muss. Trümmer beiseiteschaffen, Versehrten beistehen, dafür sorgen, dass die herbeikommenden Rettungs- und Ordnungskräfte ihre Arbeit machen können. Und dabei die bange Frage: Wie sieht es in den anderen Quartieren der Stadt aus? Wie geht es wohl meinen Liebsten? Sind sie in Sicherheit?

Die Erinnerung wachhalten

Es gibt unzählige Geschichten, was sich an jenem Morgen während jener fatalen 40 Sekunden und danach in den Strassen, auf den Plätzen und in den Gebäuden Schaffhausens abgespielt hat. Und in den Köpfen der Menschen. Bereits im Jahr 2014 haben die «Schaffhauser Nachrichten» einige Zeitzeugen nach ihren Erinnerungen gefragt und diese Gespräche auf Video aufgezeichnet. Ergänzt mit Dutzenden Originalfotografien und einer umfangreichen Hintergrunddokumentation ist ein multimediales Panoptikum des schrecklichen Ereignisses entstanden, das sich wie kaum ein zweites in der jüngeren Geschichte der Stadt in das kollektive Gedächtnis ihrer ­Bewohner eingeprägt hat.

Aktualisiert und auf www.shn.ch aufgeschaltet ist diese Dokumentation zum 75. Jahrestag dieser schwersten Bombardierung einer Schweizer Stadt während des Zweiten Weltkriegs mit einem interaktiven Stadtplan, wo interessierte SN-Leser genau nachsehen können, wo welche Schäden entstanden und wo sich jene 40 Menschen aufhielten, als sie durch die einschlagenden Bomben den Tod fanden.

Vierzig Sekunden, welche die Stadt veränderten: Die Opfer, die Schäden

Dem Abwurf von 378 Spreng- und Brandbomben auf die Stadt Schaffhausen fielen 29 Männer, 9 Frauen und 2 Kinder zum Opfer – 40 Menschen jeden Alters. Fast die Hälfte der Toten, nämlich 18, starben beim Bahnhof, dessen Südteil von einer Sprengbombe getroffen wurde. Neun Todesopfer waren bei der Beckenstube zu beklagen. Fünf Menschen fanden im Mühlenquartier den Tod, darunter die dreieinhalbjährige ­Esther Gruber, das jüngste Todes­opfer. Ihre Mutter und die beiden ­Geschwister waren in der direkt ­getroffenen Liegenschaft Mühlenstrasse 90 vom 2. in den 1. Stock hinuntergestürzt – überlebten aber ­unverletzt. Wie der damalige Bezirksarzt nach der Inspektion notierte, ­waren viele der Opfer bis zur ­Unkenntlichkeit zerfetzt. Der Tod sei in fast allen Fällen augenblicklich eingetreten, meist durch einstürzende Mauern oder Bombensplitter. Die ­Opfer wurden bereits am 4. April 1944 im Waldfriedhof in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt. Delegationen aus der ganzen Schweiz sowie Hunderte Bürger nahmen Anteil.

Neben den Toten gab es beim Bombardement um die 120 Verletzte, ­davon 37 Schwerverletzte. Rund 500 Menschen wurden durch die Bombardierung vorübergehend obdachlos. Die Betroffenen mussten in einer grossen Hilfsaktion der Stadt in Baracken und Schulen einquartiert werden.

Im Wesentlichen zog der Bombenteppich die westlichen Teile der ­Altstadt mehr oder minder stark in Mitleidenschaft: Kammgarn/Museum, Beckenstube, Herrenacker, Frauengasse, die Rheinstrasse und die Neustadt; es gab zahlreiche Schäden – und Feuersbrünste: Nicht weniger als 50 brennende Gebäude wurden am Nachmittag des 1. Aprils gezählt. Das damals dicht bebaute Mühlenquartier mit seinen Wohnhäusern, ­Gewerbe- und Industriebauten wurde besonders stark getroffen. Viele Schäden an Privathäusern zählte man ferner an den Orten Fäsenstaubpromenade, Stokarberg sowie Urwerf.

Insgesamt wurden 66 Gebäude ­total zerstört oder so stark beschädigt, dass sie abgetragen werden mussten. Rund 500 weitere Gebäude erlitten Schäden unterschiedlichen Ausmasses. Eine Dokumentation des Stadtrats aus dem Jahre 1945 schätzte die gesamten Schäden an der Infrastruktur auf die damals astronomische Summe von mehr als 10 Mil­lionen Schweizer Franken. (lbb)

Offizielle Gedenkfeier und Sonderausstellungen

Mit Glockengeläute auf dem gesamten Stadtgebiet am kommenden Montag um 10.50 Uhr erinnert die Stadt an das tragische Ereignis vor 75 Jahren. Mit einer Kranzniederlegung bei der Gemeinschaftsgrabstätte für die Opfer der Bombardierung auf dem Waldfriedhof gedenkt die Stadt der 40 Todesopfer der Bombardierung der Stadt Schaffhausen am 1. April 1944. Mit Ansprachen unter anderem von Stadtpräsident Peter Neukomm, Bundesrätin Karin Keller-Sutter sowie dem US-­Botschafter Ed McMullen in der Steigkirche endet das offizielle Programm zum Jahrestag.

Die Steigkirche an ihrem alten Standort wurde beim Bombardement stark beschädigt. Eine US-Bombe fiel durch das Dach ins Chorgestühl. Wie durch ein Wunder überlebte damals der Organist, der an jenem Morgen übte. Wenige Jahre später wurde das Gotteshaus geschleift und am heutigen Standort auf der Breite neu erbaut.

Hernach lädt das Museum zum Zeughaus zur Vorbesichtigung der Ausstellung «Bomben auf Schaffhausen». Den Tag beschliesst die öffentliche Vernissage des neuen Buchs «Die Bombardierung von Schaffhausen – ein tragischer Irrtum» des Publizisten und Historikers Matthias Wipf um 19.30 Uhr in der Rathauslaube.

Ab 18. Mai zeigt das Museum zu Allerheiligen die Ausstellung «Kunst aus Trümmern – Schweizer Kulturspenden nach der Bombardierung». Im schwer getroffenen Museum wurden etliche wertvolle Kunstwerke ein Raub der Flammen. Kulturspenden aus der ganzen Schweiz halfen nach dem Krieg, die Bestände wieder aufzubauen. (lbb)

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