Die Freiheit eines Quadratmeters

Anna Rosenwasser | 
Noch keine Kommentare
Ein Experiment gegen die Feigheit: «Tanzhalle» von Ursula Lips und Tina Beyeler. Bild: zvg

Die Tanzenden sind zwischen vier und 63 Jahre alt, das Ensemble zählt fast 80 Leute: Kann die «Tanzhalle» gut gehen? Die Leiterinnen glauben ans Experiment.

Klar, die Kammgarnbühne hat schon so manche Menschen getragen. Eine Horde Blödel-Metaller, die halbe WCs aufbauen. Funkige Jazzorchester, die gefühlte zwei Dutzend Bläser aufstellten. Jungbands, die statt Punk einfach Fussball spielten. Was aber, wenn 79 Menschen tanzen wollen? An einer einzigen Aufführung, allesamt in der Kammgarn, und zwar vor Publikum?

Die «Tanzhalle» will genau das. Eine kurze Erklärung vorweg: «Tanzhalle» ist nicht etwa ein Ort, keine Schule, keine eigentliche Halle. Es ist der Name eines Stücks, in dem getanzt wird – und das, wie erwähnt, zu neunundsiebzigst. Die Teilnehmenden sind zwischen 4 und 63 Jahre alt, das Stück dauert 75 Minuten. Man muss keinen Taschenrechner in die Hände nehmen, um sich die Frage zu stellen: Wie soll so etwas bloss aufgehen?

Ursula Lips und Tina Beyeler haben sich die Frage anders gestellt. Sie fragten sich: Was fordert uns heraus? Was haben wir noch nie gemacht? – «Eine Aufführung mit so vielen Beteiligten zu choreografieren, war neu für mich», sagt Beyeler. «Bisher war ich meist Teil eines etwa fünfköpfigen Teams, etwa in meinem Ensemble Kumpane.» Seit eineinhalb Jahren leitet Beyeler nun die Tanz-Theater-Schule mit, deren Schülerinnen und Schüler in «Tanzhalle» auftreten.

Den Mut zusammengenommen

Für Ursula Lips hingegen war nicht die Anzahl der Tanzenden der neuartige Aspekt des Stücks. Bereits 1991 hatte Lips ihre Tanzschule eröffnet, ebenjene, die Beyeler 2015 übernahm, nun choreografieren und leiten die beiden, ehemals Lehrerin und Schülerin, die «Tanzhalle» gemeinsam. Hier liegt für Lips das Neuartige. «Zu zweit eine Aufführung zu machen, das hatten wir so noch nie.»

Die beiden professionellen Tänzerinnen sitzen gemeinsam an einem Tisch, denken zurück an die Zeit, in der sie sich zum ersten Mal begegnet waren. 1995 war es, als Tina Beyeler beschloss, endlich Tanzunterricht bei Lips zu nehmen. «Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen», erzählt Beyeler, «fragte nach, ob es noch Platz habe, und ging dann an meinem 17. Geburtstag zum ersten Mal ins Modern Dance. Danach musste ich zur Turnstunde in die Kanti – und ich bin so gut wie hingeflogen!» Vier Jahre später erfolgte die erste Zusammenarbeit.

Zwar mögen sich Lips und Beyeler schon lange kennen. Die Arbeitsweisen aber blieben immer verschieden, versichern beide. «Ich mag keine Sofortentscheide», sagt Lips, «Ich bin langsam, mache eine Choreografie nur ein einziges Mal, dafür aber in langer Arbeit und so, dass sie sitzt. Tina ist das Gegenteil.» Beyeler stimmt zu, lachend. Die beiden vergleichen die Herangehensweise an eine Choreografie mit dem Erklimmen eines Bergs: «Ich laufe mit langsamen, aber stetigen Schritten hinauf», so Lips, «und Tina rennt schnurstracks nach oben, fällt mal runter und rennt dann wieder. Unsere Zusammenarbeit ist von diesem Unterschied geprägt.» – «Wir lassen uns aber diese Eigenarten», ergänzt Beyeler. «Das führt allerdings dazu, dass man die Verantwortung in veränderlichen Phasen nicht abschieben kann.» Einig sind sie sich: Stetige Kommunikation ist der Schlüssel zu einer kohärenten Aufführung.

«Der Performance-ball rollt von einer Gruppe zur nächsten.»

Tina Beyeler, Organisatorin

Kein Nummernprogramm

Wie ist das denn nun mit fast 80 Tanzfreudigen auf einer einzigen Bühne? «Auch wenn wir unsere eigene Tribüne mitbringen: So viele Leute haben aufs Mal nicht Platz», räumt Lips ein. Während im grossen Finale 48 Leute aufs Mal auf der Bühne sind – und innerhalb weniger Minuten sämtliche Tanzende zu sehen sein werden! –, erfolgt die Aufführung nach Gruppe. Den beiden Tanzlehrerinnen ist dabei aber wichtig: Ein Nummernprogramm ist das nicht. Die einzelnen Sequenzen werden ineinander verwoben, «der Performanceball rollt von einer Gruppe zur anderen», erklärt Beyeler. Geprobt wird allerdings gestaffelt. Lips je mit vier Klassen, Beyeler mit sieben.

Der Tanzstil reift mit

Die grosse Altersspanne der Auftretenden ist dabei ein Faszinosum für Beyeler. «Jeder Altersabschnitt hat unterschiedliche Fähigkeiten vorzuweisen. Wenn ich den Kleinsten sage, sie sollen einen Wirbelsturm tanzen, dann geben sie sich voll rein, fallen vielleicht auch mal hin, sind hemmungslos. Gebe ich dieselbe Anweisung einem 45-Jährigen, fallen seine Bewegungen mitunter kontrollierter aus. Er wird sich fragen: Wie gross darf der Wirbelsturm sein? Dafür kann ich ihm genauere Anweisungen geben, weil er ein präziseres Körpergefühl hat. Und 20-Jährige wiederum wollen rumrennen, an ihre Grenzen gehen, dehnbar sein – so zeigen sich Altersunterschiede im Tanz.»

Entsprechend divers war auch das Entwickeln der Sequenzen. Lips wie Beyeler war wichtig, strukturiert Platz zu lassen für geübte Improvisationen – «das fand ich früher immer das lässigste am Tanzunterricht: loslassen zu dürfen», schildert Lips –, die Tanzenden anzuregen, auch mal zu Neuem zu provozieren. Dabei stellen einige Elemente von «Tanzhalle» selbst für die beiden erfahrenen Tanzlehrerinnen Experimente dar. Sie machen Andeutungen zum «grossen Finale», wo eben alle Tanzenden in kurzer Zeit auf der Bühne zu sehen sein werden. «Ich gab jeder Person einen Quadratmeter, mit verschiedenen Themen und Regeln», sagt Lips, während sie ein Notizbuch aufschlägt. Seitenweise feine Bleistiftnotizen zeigen Positionen, Bewegungen, Anweisungen. «Wir probieren einfach aus. Das sind jeweils Gratwanderungen, aber ein nettes liebes Kindertänzchen fordert mich nicht heraus. Feigheit gibt’s genug – und die Schülerinnen und Schüler machen das Wagnis gerne mit», sagt Lips dazu.

«Das sind Grat- wanderungen. Aber Feigheit gibt’s schon genug.»

Ursula Lips, Organisatorin

Nur zweimal trifft das Gesamt­ensemble vor den drei Auftritten aufeinander: an der Hauptprobe und an der Generalprobe. Dann wird ausprobiert, was ein Experiment sein darf und soll, und wie viel Raum es braucht, damit der Begriff «Halle» naheliegt.

Tanzhalle: 31. Mai / 1. Juni / 2. Juni, je 19 Uhr, Kammgarn, Schaffhausen.

Kommentare (0)

Neuen Kommentar schreiben

Diese Funktion steht nur Abonnenten und registrierten Benutzern zur Verfügung.

Registrieren