Wo Literatur mit dem Strom schwimmt

Martin Edlin | 
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Leinen los für die deutsche Schriftstellerin Christiane Wünsche (v. M.) und ihre Zuhörerschaft: Ein Mändli-Boot nimmt Kurs Richtung Literarisches. Bild: Selwyn Hoffmann

Gestern stachen die Literaturboote zwar nicht in See, doch in den Rhein Richtung einer sehr «artenreichen» Welt der Literatur. Für Autorinnen, Autoren und mitreisende Zuhörerschaft, so das einstimmige Urteil, ein ungetrübtes Bordvergnügen.

Die Literaturboote, kurz nach der Jahrtausendwende im Kielwasser der legendären «Wort- und Bild-Festifalls» und des späteren «RheinfallFestivals» ins Leben gerufen und heute beim Rebbauverein Neuhausen in guter organisatorischer Hand, mussten bereits mehrmals «Wind und Wellen» trotzen, auch wenn damit weniger meteorologisches Unbill als die schwierige, einmal sogar eine vierjährige Pause diktierende Suche nach einer Trägerschaft gemeint ist. Auch dieses Jahr herrschte «Gegenwind», allerdings anderer Art, nämlich aus Richtung Corona-Pandemie: Die Durchführung musste vom Juni auf gestern verlegt werden, und die Mändli-Boote durften laut ­Covid-19-Schutzbestimmungen jeweils nur 25 zahlende Personen an Bord nehmen. Dass die Bilanz dennoch «Erfolg auf der ganzen Linie» lautet, ist der beste Beweis, dass die schwimmende Neuhauser Kulturveranstaltung zur fest verankerten (auch wenn dieses Sprachbild zu auf dem Rhein treibenden Boote wirklich nicht passt) Tradition geworden ist.

Die schwimmende Neuhauser Kulturveranstaltung ist zu einer fest verankerten Tradition geworden.

Alle Jahre wieder: Autorenlesung auf einem vom Rheinfallbecken gemächlich in Richtung Rheinau schaukelnden Boot, bevor es dann mit Motorkraft zurück zum Rheinfall geht samt gemütlicher Stärkung mit Käse, Brot und einem Glas Weisswein. Und dennoch immer wieder ganz neu, wofür die eingeladenen Autorinnen und Autoren sorgen, die man mit einem ihrer Bücher kennenlernt. Das gestrige Angebot spiegelte dabei eine ausserordentliche Vielfalt: Vom Sachbuch über zwei Romane bis zur rezitatorischen Entdeckungsreise in Rainer Maria Rilkes epochemachende «Aufzeichnungen des Malte Lauris Brigge».

Eben doch «schwere Jungs»

Dass in den Literaturboot-Prospekten der Titel seines Buchs mit «Schwere Jungs» statt mit «Schwere Kerle rollen besser» genannt wird, nahm deren «Vater», der 35-jährige «Tages-Anzeiger»-Kulturredaktor Linus Schöpfer nicht nur mit Humor, sondern gleich zum Anlass, als Erstes das Kapitel über den sich Anfang des letzten Jahrhunderts zu vielen Siegerkränzen schwingenden Johannes Lemm zu lesen. Dieser hatte (für den Schwingerverband ein horribile dictu) viel Geld im doch eher dubios-kriminellen Geschäft des Wrestlings gemacht. Nein, eine heile Welt ist die eidgenössische Schwinger-Szene nie gewesen, aber eine faszinierende, die Linus Schöpfer mit riesigem Rechercheaufwand mit vielen Verästelungen abgebildet hat. Eigentlich ist sein Buch eine profunde Reportage ohne grossen literarischen Anspruch, aber so lebendig und farbig und auch aus humorvoller und ironischer Distanz geschrieben, dass man jeden Griff und jeden Schwung von Siegern und Verlierern und das aufwirbelnde und manchmal vernebelnde Sägemehl zu sehen glaubt. Da geriet im Literaturboot sogar Ex-Schwingerkönig Ernst Schläpfer ins Erzählen.

«Heimat» in zwei Sichtweisen

Im zweiten Boot las Christiane Wünsche aus ihrem Roman «Aber Töchter sind wir für immer», eine epische Familiengesichte, zwar mit fiktiven Biografien, aber von persönlichem Erleben inspiriert. Die deutsche Schriftstellerin aus dem Niederrheinischen ist in minutiöse Schilderungen geradezu verliebt – manchmal möchte man es, um sich in den familiären Beziehungskisten zurechtzufinden, gar nicht so genau wissen. Doch das sensibel nachgezeichnete Psychogramm dieser Familienmitglieder dient Christiane Wünsche – wie sie erzählte – einer elementaren Frage, nämlich was Heimat ist. «Glücklich, wer eine hat», schliesst ein Gedicht von ihr, das sie als Prolog vortrug.

Um «Heimat», aber unter einem anderen Blickwinkel, geht es auch der 1986 in Zagreb geborenen, in Zürich aufgewachsenen und lebenden Autorin und Theaterwissenschaftlerin Ivna Žic. Ihr erster Roman «Die Nachkommende», aus dem sie auf dem dritten Boot mit packender Ausdruckskraft las, dreht sich, ohne einer exakten Chronologie von Ereignissen zu folgen, um die Frage, was man den Menschen schuldet, die dort, in der Heimat, geblieben sind, während man selbst längst weitere Kreise zieht. Žics literarische Sprache zeichnet auf dieser Spurensuche durch das heutige Europa Bilder, die aus dem Nichts kommen, wieder verschwinden und doch bleiben. Das ist wie bei der Heimat, welche die Schriftstellerin bei einem Besuch wieder erkennt und die ihr doch wegstirbt.

Schliesslich erlebte man ein Wiedersehen mit dem in Zürich wirkenden Schauspieler Volker Ranisch. Vor einem Jahr hatte er auf den Literaturbooten mit einer Lesung aus Briefen und autobiografischen Texten von Theodor Fontane eine faszinierende Begegnung mit dem deutschen Schriftsteller ermöglicht. Diesmal stieg mit dem Rezitator und Moderator sozusagen der Dichter Rainer Maria Rilke beziehungsweise die Figur aus dessen Roman «Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» an Bord. Das Versprechen von Volker Ramisch, in einer Art theatraler Lesung «fassbar zu machen, was die Romanfigur und mit ihr auch uns in Bann zieht», hielt er in brillanter Art.

Appetit machen

Man könnte sagen, auf den Literaturbooten wurden «Amuse-Bouches» serviert, die Appetit machen: Auf das oder jenes Buch, das eine Lesung lang, wie die Zuhörerschaft, auf und mit dem Strom geschwommen ist und mit dessen Autorin oder Autor man im gleichen Boot gesessen hat. Keine Spur von sinkendem Schiff, das die Leseratten verlassen müssten – im Gegenteil!

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